Surfer im Eis

IM ÄUSSERSTEN OSTEN RUSSLANDS TROTZEN SIE
BEI EISIGEN TEMPERATUREN METERHOHEN WELLEN:
WILLKOMMEN IN DER HÄRTESTEN
SURFSCHULE DER WELT

Die Aussicht auf ein heißes Dampfbad in der Banja ist das Einzige, was uns jetzt noch am Leben hält. Zwei Stunden kämpfen wir im eiskalten Pazifik schon gegen die Strö­mung an, und mit jeder Minute schwinden die Kraft und die Aussicht, hier je wieder lebend herauszukommen. Den Kampf gegen die Natur scheint man nicht gewinnen zu können, erst recht nicht, wenn man das erste Mal auf einem Surfbrett steht, wenn einem die eiskalte Gischt wie kleine Nadeln ins Gesicht sticht. An Aufgeben ist nicht zu denken: Wir sind nicht zum Jammern nach Sibirien gekommen. Sondern zum Surfen.

Es gibt viele Surfschulen auf der Welt, aber nur eine in Russland – und das ausgerechnet hier: auf Kamtschatka, einer Halbinsel am äußersten Rand Sibiriens, wo die Winter einsam sind und lang. Kamtschatka liegt näher an Alaska als an Moskau, es gibt keine Straßen, die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbinden. Bis zum Ende des Kalten Krieges war hier militärisches Sperrgebiet, das Russen nur mit Sondergenehmigung des Geheimdienstes betreten durften, Ausländer schon gar nicht. Manchmal schaut Wladimir Putin zum Angeln vorbei, denn er liebt Lachse, und Lachse lieben Kam­tschatka. Wer Vögel mag und Kaviar in Eimern, für den ist Kamtschatka das Paradies auf Erden, und wenn man Anton Morosow glaubt, gilt das auch für Surfer.

Anton Morosow wuchs im Wes­ten Kamtschatkas auf, in Oktjabrski am anderen Ende der Halbinsel. Sei­ ne Eltern waren Fischer, sie belie­ferten einst die ganze Sowjetunion. Bis die großen Trawler vor der Küs­te alles abbaggerten und die Eltern in die Hauptstadt Petropawlowsk zogen. Heute wollen die jungen Leute nur eins: raus aus Petro­pawlowsk, raus aus Kamtschatka. Anton blieb. Keine Stunde außer­ halb der Stadt, am Chalaktyrskij­ Strand, gründete Anton vor zehn Jahren seine Surfschule Snowave. Über mehrere Monate war er mit Freunden den 30 Kilometer langen Strand abgelaufen, ohne einem Menschen zu begegnen. Dann fan­ den sie den perfekten Spot: konsis­tente Dünung, gute Bänke, lange Wellen. „Auf Bali kann jeder sur­fen“, sagt Anton. „Aber hier, wo das Wasser selbst im Sommer selten wärmer als zehn Grad wird, geht es nicht um Lifestyle. Hier gelten an­ dere Regeln.“ Die erste lautet: war­ten. Es heißt, das Wetter schlage hier binnen Minuten um, aber seit Tagen ist es nur grau, sehr grau.

Also sitzen wir Stürme aus, wärmen uns am Lagerfeuer, lauschen dem Tosen des Pazifik. Als sich nach Tagen des Nebels endlich ein heller Punkt aus der grauen Wolken­ decke schält, sie aufreißt und alles in vorher nie gese­henen Farben erstrahlt, erblicken wir zum ersten Mal die schneebedeckten Vulkane, die Eisblöcke auf dem schwarzen Sandstrand und das petrolfarbene Meer.

Es ist kalt, sehr kalt auf Kamtschatka, und die Luft so klar, dass sie den Atem stocken lässt. „Perfektes Wetter zum Surfen“, sagt Anton, im Winter – bei minus 15 Grad Lufttemperatur und null Grad Wassertemperatur – seien die Wellen noch besser als im Sommer. Das Surfen haben sich Anton und seine Freunde Ende der 90er­Jahre selbst beigebracht, mithilfe einer VHS­Kassette des Films „In God’s Hands“: drei Surfer auf der Suche nach der ultima­ tiven Welle. „Wie hätten wir es lernen sollen“, sagt Anton, „es gab kein Internet. Wir wussten nicht, wie man raus­ paddelt, eine Welle erwischt, auf dem Brett stehen soll.“

Die ersten Surfer in Russland waren Snowboarder, die nach dem Fall der Sowjetunion erst das Schwarze Meer bei Sotschi eroberten und später den Pazifik bei Wladiwostok. In den 90ern kamen die ersten von ihnen nach Kamtschatka. Die Wellen waren zu stark, sie konn­ten sie nicht bezwingen. Als sie unverrichteter Dinge der Halbinsel den Rücken kehrten, hinterließen sie kaputte Bretter und Wetsuits. „Sie sagten, hier könne man nicht surfen“, sagt Anton. „Was sie nicht wussten: Surfen ist harte Arbeit.“ Mit ihren Brettern begannen Anton und seine Freunde sich in die Wellen zu stürzen. Anfangs nur im Sommer, dann auch im Winter, was bliebe ihnen hier anderes übrig: Das Wetter sei nur drei Monate schön, und wer die restlichen neun nur herumsitze, müsse im nächs­ten Jahr wieder von vorn anfangen. Beim ersten Winter­ surfen trug er einen viel zu dünnen Neoprenanzug, er dachte, seine Hände sterben ab.

Auch heute ist das Wasser kalt, aber wir sind nicht allein damit. Da ist Katja, 28, Stadtplanerin aus Moskau, surfen war sie bisher nur in Agadir. Dann gibt es noch Oleg, der sich um das Camp kümmert, und sei­nen Sohn Wadim. Der ist zwölf und surft seit einem Jahr – nur im Som­ mer –, und er steht auf Gucci und Trap Music. An einer Hütte lehnt ein Surfboard, es ist 22 Jahre alt und er­ innert an die Anfänge. Es ist das ers­ te Brett made in Kamtschatka. Ein Freund von Anton hat es gebaut.

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Die Anfängerkurse bei Snowave bestehen aus den Einheiten Etikette, Equipment, Technik. Im Winter gilt dasselbe wie im Sommer, mit dem Unterschied, dass sich Eiszapfen im Gesicht festsetzen und die Wetsuits so dick sind, dass man sich kaum bewegen kann. „Das erste Mal ist die Hölle, aber man gewöhnt sich schnell daran“, sagt Sergej Rasschi­waew. Der 34­jährige St. Peters­burger ist einer der besten Surfer des Landes, war lange Vorsitzender der Russian Surfing Federation. Auch ihn hat ein Film zum Surfen gebracht, „Point Break“ mit Patrick Swayze und Keanu Reeves. Mit 23 stand Sergej das erste Mal in Portugal auf dem Brett, von da an gab es kein Halten mehr. Zwei Jahre lang flog er um die Welt, bis er eine Surfschule in der Dominikanischen Republik eröffnete. Mit 27 hatte er ausgesorgt. „Ich musste nicht viel arbeiten, saß die ganze Zeit am Strand und dachte: Kann das wirklich alles sein?“

Es war nicht alles. Auf der Suche nach der perfekten Welle kam er vor fünf Jahren das erste Mal nach Kamtschatka. Unter erfahre­nen Surfern aus aller Welt hatte die Halb­insel bereits Kultstatus erlangt. Seitdem kommt Sergej zweimal im Jahr. „Woanders ist es vielleicht wärmer“, sagt er. „Das Sur­fen in der Kälte ist gar nicht so schlimm. Viel schlimmer ist das Umziehen.“ Der Wechsel in die Neoprenanzüge ist wirklich eine Qual. Sie sind eiskalt und so steif, dass man kaum in sie hinein­ kommt. Die Aussage von Anton, dass es fast unmöglich sei, aus dem Stand surfen zu lernen, macht es nicht bes­ ser. Es brauche viele Jahre, den Ozean zu lesen: „Das Meer zeigt dir schnell deine Grenzen auf. Surfen ist ein guter Weg, das eigene Ego zu norden.“ Das stimmt. Und wir sind noch nicht mal im Wasser.

Wir machen erst einmal Übungen am Strand. „Ihr Deutschen seid die besten Schüler, jeder macht brav, was der Lehrer sagt“, lacht Sergej. „Die meisten Russen ler­nen auf Bali surfen. Die haben gerade mal Geld für Flug und Hostel, und wenn sie doch Unterricht nehmen, ma­ chen sie, was sie wollen.“ Das sei die russische Mentalität. „Dann sage ich: Wenn du nichts lernen willst, dann be­ zahl mich nicht. Aber was soll ich da sagen? Ich war ge­nauso. Ich dachte, ich stelle mich hin, und die Welle macht den Rest.“

Um ehrlich zu sein, ganz abwegig ist dieser Gedanke nicht. An kleinen Wellen sollen wir jetzt den take-off üben, also den Moment, in dem man die Welle erwischt. Doch schon das Anschwimmen gegen die Strömung ist ein Zweikampf, den das Meer meistens gewinnt. Immer wieder stößt uns Anton ins Wasser. Es ist eiskalt. Wir tra­gen nicht nur sechs Millimeter dicke Wetsuits, sondern auch Handschuhe, Füßlinge und Hauben, die die Ohren bedecken und den brain freeze verhindern. Der größte Fehler sei es, beim ersten Frieren aus dem Wasser zu ge­ hen, sagt Anton. Also durchhalten. In Bewegung bleiben. Paddeln. Nicht die Wärme in Händen und Füßen verlie­ ren – und bloß nicht untertauchen. Zwei­, dreimal könne man das bei diesen Temperaturen machen, öfter nicht. „Im Ozean bist du kein Mensch mehr“, sagt Anton. „Du wirst der Ozean.“

Manchmal, hat Sergej vorhin erzählt, wenn sie in noch unwirtlicheren Gefilden unterwegs sind und die Nacht im Zelt verbringen, lässt der Frost die Neoprenanzüge hart wie Bretter werden, und sie müssten sie mit kochendem Wasser aufweichen. Hier im Camp gibt es einen Ofen dafür. Als einer von wenigen Menschen ist Sergej auch im Nordpolarmeer gesurft, wo die Stürme mit 50 Stundenkilome­tern unberechenbar sind und das Meer so tobt, dass herumwirbelnde Muscheln die Wetsuits aufschneiden. Einmal, als die Wellen zu verlockend aussahen, verschluckte ihn der Ozean. „Ich wur­ de minutenlang durch das Wasser ge­ schleudert, bekam keine Luft mehr, und als ich auftauchte, kam schon die nächs­te Welle angerollt. Wenn das passiert, bist du ganz auf dich allein gestellt.“

„Wenn du alles haben willst, musst du bereit sein, alles zu geben“ – dieser Satz aus „Point Break“ klingt wie das Leitmotiv dieser furchtlosen Under­ dogs. Anton ist stolz auf seine Heimat und wird nicht müde, gegen die Stereo­ type „zu kalt“, „zu abgelegen“, „zu ge­fährlich“ anzukämpfen. Denn wer sich nicht abschrecken lässt, wird Zeuge davon, wie das Meer zu knirschen be­ginnt, wenn der Schaum auf den Wellen gefriert und man eins mit sich ist und der Natur – und ein unbeschreibli­ches Hochgefühl erlebt. Als das eiskalte Salzwasser über uns hereinbricht und die Atemwege freispült, ist er da, der Geruch der Freiheit. Es ist zum Heulen und gleich­ zeitig ein Rausch. Wir wissen jetzt, was Anton meinte, als er sagte, der Schmerz weiche irgendwann dem puren Glück, man dürfe nur nicht kapitulieren.

Bevor wir unsere geschundenen Körper später in der Banja wieder auf Temperatur bringen können, müssen wir die Surfbretter ins Camp schleppen und uns unserer Wetsuits entledigen. Wir schälen uns aus dem Neopren, der Eiswind peitscht gegen die nackte Haut. Anton hofft, dass Surfen in Russland einmal so groß sein wird wie in Kalifornien. Viele Surfspots seien noch nicht erschlossen, die nördlichen an der Beringsee und weiter südlich auf den Kurilen – den „Nebel-Inseln“, die Kamtschatka mit der japanischen Insel Hokkaidō verbinden. Dort gebe es die besten Wellen, sagt Sergej, so gute, dass sie zusam­mengelegt und sich einen alten Transporthubschrauber gemietet haben, einen Mil Mi­8, der überall landen kann. Auch das Internet hat für Anton und seine Freunde vieles einfacher gemacht, dort gibt es zum Beispiel Wetter­ und Tiefenkarten, mit deren Hilfe sie Neuland wie die Kurilen entdeckt haben. „In Kalifornien“, sagt Anton, „haben sie schließlich auch klein angefangen.“

Erschienen in GQ am 25. February 2019.



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