Die Rhabarber-Renaissance
In Yorkshire wächst der beste Rhabarber der Welt: äußerst zart, nicht sauer, sogar roh kann man ihn verzehren. Seine Stängel erblicken nie das Licht, geerntet wird er bei Kerzenschein.
Nicht nur Naturmystiker fangen in der Scheune von Janet Oldroyd im Kerzenschein unwillkürlich an zu flüstern, als wären sie in einer Kathedrale. Und wer die Ohren spitzt, kann hören, wie der Rhabarber aus dem Boden kriecht, wie er aufpoppt aus seiner Schutzhülle, tausendfach, auf der vergeblichen Suche nach Licht. Ein magischer Moment. Der Anbau ist dagegen ein eher schmutziges Geschäft. Durch das fensterlose Gebäude führt ein Schlammpfad, es ist warm und feucht und riecht nach Regenwald. Die Stangen werden im Licht der Kerzen in fast andächtiger Stille gepflückt. Manche der Männer haben früher im Bergwerk gearbeitet, aber das hier sei ein Knochenjob, sagen sie. Janet Oldroyd, die Frau in Fleecepulli und Gummistiefeln, die in Yorkshire ehrfürchtig „Hohepriesterin des Rhabarbers“ genannt wird, lässt anbauen und ernten wie vor hundert Jahren. Und trifft damit einen Nerv der Zeit.
Das lange fast vergessene Gemüse erlebt seit Jahren eine beachtliche Renaissance. Prominente Köche wie Rick Stein, Nigella Lawson und Jamie Oliver preisen die Vorzüge des Edelrhabarbers aus Yorkshire, der nicht mehr nur in Crumbles und Puddings und Cakes landet, sondern auch auf Tellern zu Ente, Lamm oder Lachs. Ambitionierte Hobbyköche erweitern ihr Repertoire über Kompott und Kuchen hinaus; die Rhabarberschorle ist fest im Programm vieler Getränkehersteller und als Sommergetränk nicht mehr wegzudenken, es gibt sogar Gummibärchen mit Rhabarbergeschmack. Bisheriger Gipfel: Im letzten Herbst brachte Hermès ein „Eau de rhubarbe“ heraus, eine Hommage an die „Zwiegestalt des Rhabarbers“. Ohnehin sind traditionelle Produkte aus der näheren Umgebung und alte Produktionsverfahren gefragt: Rhabarber ist regional und bio, sein Geschmack exquisit, er kitzelt am Gaumen wie kaum ein anderes lokales Gewächs.
Er stammt ursprünglich aus dem Himalaja und kam erst im 17. Jahrhundert nach England. Zunächst etablierte sich die Wurzel in Adelskreisen als Mittel gegen Fettleibigkeit, erst später entdeckte man die kulinarischen Vorzüge der Rhabarberstengel – Rhabarber wurde als „Wunderfood“ ausgerufen.
Der Urgroßvater von Janet Oldroyd hatte sich in Yorkshire in die Kunst der besonderen Stangen einweihen lassen, die hier wachsen: Treibrhabarber, der nicht erst im April, sondern schon im Januar reif ist, und der viel zarter und feinsinniger im Gaumen liegt als sein saurer Freilandbruder. Von den tausend Tonnen Rhabarber, die ihr Unternehmen E. Oldroyd & Sons heute produziert, ist ein Fünftel der besondere „Yorkshire Forced Rhubarb“. Dass er gerade in Yorkshire so gut gedeiht, ist kein Zufall.
Die Pennines, ein Mittelgebirge, das sich wie ein Rückgrat durch das Königreich zieht, bringen nicht nur starke Regenfälle und lange Kälteperioden in die Region, sie ließen auch die Wollindustrie florieren. Der Wollstaub („shoddy“), der beim Scheren der Schafe entsteht, ist bestes Düngemittel für die jungen Triebe. Die in Yorkshire beheimatete Schwerindustrie führte dazu, dass sich Schwefel im aufnahmewilligen Boden niederschlug; die örtlichen Kohlefabriken brachten nicht nur billige Wärme; Ruß und Asche ließen die Triebe auf dem Feld auch früher absterben, was die Rhizome kräftigte. Es klingt absurd, aber es galt der Grundsatz: Je verpesteter die Luft, umso schmackhafter der Rhabarber.
In der Blütezeit vor dem Krieg gab es über 200 Züchterfamilien im „Rhabarberdreieck“ zwischen Wakefield, Bradford und Leeds. Zusammen produzierten sie 90 Prozent des weltweiten Bedarfs, und wegen der günstigen Lage im Herzen Großbritanniens war die Ernte am nächsten Morgen überall im Land auf den Märkten. Nach Kriegsende kamen dann auf einmal die modernen Kühltransporte und mit ihnen exotische Früchte aus aller Welt, die Nachfrage nach den säuerlichen heimischen Stengeln sank drastisch. Es ist nur gut ein Dutzend Züchter übriggeblieben, doch das profitiert heute von der Rhabarber-Renaissance.
Bevor der edle „Yorkshire Forced Rhubarb“ überhaupt ins Gewächshaus kommt, müssen seine Rhizome zwei Sommer lang ungeerntet auf dem Feld ausharren und im Winter sogenannte Kältepunkte sammeln. Ein Tag mit drei Grad bringt sieben Punkte, einer mit acht Grad nur zwei. Die Sorten brauchen unterschiedlich viele Punkte, neuere nur 120, ältere wie Albert & Victoria bis zu 300. „Mein Vater hatte die Kältepunkte schon im September zusammen, heute können wir froh sein, wenn wir sie im Dezember haben“, sagt Janet Oldroyd. Dann werden die bis zu 80 Kilo schweren
Wurzeln von Hand in die Gewächshäuser getragen. Eine maschinelle Ernte würde das Wurzelwerk zu stark beschädigen, Pilzerkrankungen wären die Folge.
In fensterlosen Baracken hat der Rhabarber zwei Wochen Zeit, aufzuwachen aus seiner Lethargie. Die Pflanze braucht weder Erde noch Licht dafür, sie wächst aus ihrer eigenen Energiereserve bis zu fünf Zentimeter am Tag. Ein champagnerfarbenes Blatt ist ein Indikator für gute Qualität, je röter der Stamm, umso besser. Es sind diese feinsten Rhabarberstangen, um die sich die britischen Chefköche reißen, weil der Zucker in den Stengel geht und nicht ins Blatt, und weil die Säure sich zurückhält, die erst mit der Photosynthese kommt, aber die kommt ja nicht, weil alles dunkel ist.
Einer, der das Geschäft aufgegeben hat, ist Brian Asquith, den hier alle Ben nennen. Sein Vater war ein Pionier in der Branche, er belieferte schon damals fast alle Supermärkte im Land. Für Ben Asquith lohnt sich das Geschäft nicht mehr. Ein Dutzend Scheunen hatte er noch, bis Jugendliche sie im nächtlichen Rausch in Brand setzten. Warum neu anfangen, wozu die Qual? „Der einzige Unterschied zwischen einem Supermarkteinkäufer und einem Terroristen ist, dass man mit einem Terroristen verhandeln kann“, sagt er. Asquith wurde stattdessen Sammler, ein Kurator, wenn man so will: Von 200 bekannten Rhabarbersorten zieht er 80 heran. Es gibt noch einen anderen Sammler in Nottingham, sagt er, „aber der zählt nicht, der ist komisch“.
So komisch wie die meisten hier, die grundsätzlich nichts an Bauern südlich von Sheffield verkaufen. Asquith allerdings schon. „Ich bin eben Geschäftsmann.“ Er erhalte die DNA für künftige Generationen, sonst stürben die Rhabarbersorten irgendwann aus. „Die Holländer züchten wenige Rhabarbersorten und überschwemmen damit den ganzen Kontinent“, schimpft er. Seine Lebensgefährtin sitzt daneben und schüttelt nur den Kopf. Emma Van Dodeweerd ist Holländerin, sie hat gegen den Brexit gestimmt, Asquith dafür. Um das zukünftige Geschäft macht er sich trotzdem keine Sorgen. „Seit die Tabloids geschrieben haben, dass Rhabarber wohl gegen Krebs vorsorgt, läuft es richtig rund.“
Rhabarber ist auch eine höchst politische Angelegenheit. Viele Supermärkte in England haben holländischen Rhabarber längst aus den Regalen geschmissen, in diesem Jahr mussten die Farmer aus Yorkshire sogar Triebe nach Holland schicken, wo Überschwemmungen große Teile der Ernte vernichtet hatten. Jonathan Westwood, der auch den englischen Königshof beliefert, kommt kaum hinterher, den Bedarf zu stillen. „Ich bin der größte Züchter hier“, sagt er. „Vielleicht von Europa. Vielleicht auch der Welt. Aber es reicht einfach nicht.“ Seit dem Tod seines Vaters vor fünf Jahren führt der 56 Jahre alte Westwood in nun sechster Generation mit seiner Schwester Sarah die Farm, deren Gewächshäuser zum größten Teil seit dem 19. Jahrhundert nicht erneuert wurden. Viele Köche kommen die Westwoods besuchen, die großen Supermärkte wie Morrisons, Booths, Tesco und Waitrose beliefern. Das Kilo kostet rund fünf Euro, „ein Witz, wirklich“, sagt Westwood, aber was solle man machen, so sei es eben.
In Jonathan Westwoods Büro hängen unzählige Siegerurkunden der „Best Sticks Competition“, einem regionalen Wettbewerb, der gut 80 Jahre lang die besten Züchter kürte. Irgendwann war Schluss, weil nur noch Familie Westwood gewann. Trotzdem gab der Vater den Rhabarberanbau in den Achtzigern zwischenzeitlich sogar ganz auf. Ein Schritt, der Jonathan Westwood bei allen Mühen nicht in den Sinn kommt. Das Züchten von Treibrhabarber erfordert nicht nur Geduld und Können, es kann zuweilen eine harte und zuweilen stumpfsinnige Arbeit sein: Weil alle fünf Tage geerntet wird, können keine Pestizide gesprüht werden; wird der Rhabarber zu grob angepackt, kann er die Pilzkrankheit Botrytis bekommen, dann ist die ganze Ernte verloren. Man braucht viel Diesel zum Heizen der Anlagen, und in manchen Jahren ist der so teuer, dass nur mit Glück am Ende eine schwarze Null rauskommt. Zudem stehen die Baracken nach dem Pflücken das Jahr über leer. Trotzdem macht Jonathan Westwood weiter. „Die Frage ist eigentlich nur, wer uns Alten die Arbeit irgendwann von den Schultern nimmt“, sagt er. „Sorgen ums Geschäft mache ich mir nicht, wir kommen ja kaum mit der Produktion hinterher.“
Auch Janet Oldroyd ist zuversichtlich, dass der Rhabarber in England eine Zukunft hat. „Erst gingen die Kohlearbeiter in den Streik, dann gab es plötzlich den ganzen Industriezweig nicht mehr. Jede Generation hat ihre Krise, und jede hat sie irgendwie überstanden“, sagt sie. „Unsere ist die vielleicht härteste: das Wetter.“ Nördlicher können die Bauern wegen der Böden nicht ziehen, sie können nur hoffen, dass die Auswirkungen des Klimawandels am Ende nicht so schlimm werden wie prognostiziert. Sie freut sich immer noch, dass der Rhabarber aus Yorkshire nach sechs Jahren harter Grabenkämpfe (nicht zuletzt auch wegen ihres eigenen Einsatzes) im Jahr 2010 die geschützte Ursprungsbezeichnung der Europäischen Union bekommen hat, wie etwa Parmaschinken, Lübecker Marzipan, Fetakäse und Champagner. Diese Auszeichnung, sagt Janet Oldroyd, bleibt ihnen auch nach dem Brexit.
Die Menschen in den Restaurants, Supper Clubs und klandestinen Dinner- und Kochzirkeln werden dafür sorgen, dass der Edelrhabarber gefragt bleibt: Mit dem Nachtzug nach London und dann im Eurostar nach Paris, so kommt er heute zu seinen Verehrern. Fast wie damals, in der Blüte des Rhabarberdreiecks.
Erschienen in Frankfurter Allgemeine Quarterly am 17. März 2017.