So munter die Nacht

Lange wurde die Bedeutung der inneren Uhr unterschätzt – mittlerweile zeigen Forschungen: sie hat im Körper mehr Macht als gedacht. Eine Geschichte von Eulen und Lerchen

Als Katja an diesem Tag zur Arbeit kommt, stehen ihre Kollegen auf und klatschen. Katja hat nicht Geburtstag und wurde auch nicht befördert. Katja ist eine Eule.

So werden gemeinhin Menschen bezeichnet, die aufgrund ihrer inneren Uhr oft bis tief in die Nacht wach bleiben und am nächsten Morgen – sofern es ihnen die Gesellschaft erlaubt – vergleichsweise spät aufstehen. Katja weiß ihre Gleitzeit morgens auszunutzen, und das macht ihre Kollegen wütend. Sie stehen also da und klatschen, weil Katja „endlich“ da ist, nur eines verstehen sie nicht: Katja arbeitet genauso lange wie alle anderen und für ihren späten Rhythmus kann sie gar nichts. Denn Katja könnte auch Laura heißen oder Jürgen – wie ihr geht es vielen Menschen. In Darmstadt, in Deutschland, in Europa. Weltweit.

Katja engagiert sich bei „Delta t“, Deutschlands erstem „Verein für Zweitnormalität“. Einhundert Miglieder zählt er, auch Jürgen von der Lippe ist darunter. Gegründet wurde „Delta t“ 1993 vom Informatiker Günter Woog aus Dreieich. „Spätmenschen werden in der Gesellschaft klar benachteiligt“, sagt er, „zu oft werden sie als Faulpelze betrachtet.“ Jetzt will er kämpfen: für den Aufbau eines Netzwerkes zeitversetzter Dienstleistungen, gegen morgendliche Störungen durch Postboten, Paketdienste, Anrufe – und Arbeitgeber.

Schon früh merkte Woog, dass er ein Spät-Typ ist. Als er mit 17 als Zubrot zum Führerschein in einer Fabrik Fressnäpfe für Langohrhunde herstellte und um zehn vor sechs zur Arbeit erscheinen musste, war der Rest des Tages für ihn gelaufen.

„Ich habe nur noch geschlafen, Ausschlag bekommen; dann bin ich zu meinem Chef gegangen.“ In der Spätschicht habe er arbeiten wollen, sagt Woog, doch das ginge aus Gründen des Jugendarbeitsschutzgesetzes nicht, teilte man ihm mit. „Wer wird denn hier geschützt?“, fragt Günter Woog. „Nur die Frühaufsteher. Den anderen wird klar geschadet.“

Man solle sich nur einmal die Umfragen anschauen, sagt Woog, dann sehe man: „Auf die Frage, was die Menschen am Urlaub schätzen, antworten sie meist: das Ausschlafen. Allein wenn man die Zahl jener betrachtet, die zum Aufstehen einen Wecker brauchen; die den ganzen Morgen über müde sind, sieht man, dass fast jeder gegen seine innere Uhr lebt.“ Woog selbst steht in der Regel um elf Uhr morgens auf – ohne Wecker – geht nach dem Frühstück seiner Arbeit nach und macht abends Feierabend. Dann geht er einkaufen, trifft Freunde, erledigt, was es zu erledigen gilt und arbeitet weiter bis drei Uhr in der Früh. Eine ganz normale Arbeitsnacht. Als Freiberufler kann Woog sich das leisten. „Ich schlafe ja auch nicht länger als ein Frühaufsteher. Ich lebe zeitversetzt.“

Dafür verantwortlich: ein Zellklumpen, nicht größer als ein Reiskorn. Einige Zentimeter hinter dem Nasenrücken liegt er – da, wo sich die Sehnerven kreuzen –, er wird als „suprachiasmatischer Nucleus“ bezeichnet. Ein Zellkern, der die gesamte zeitliche Organisation unseres Körpers steuert. Jedes Lebewesen besitzt eine solche endogene Uhr. Wobei man von einer kaum sprechen kann – es sind Milliarden. Jede Zelle ist ihre eigene Uhr; selbst Einzeller sind ihre eigene Uhr. Nach ihr richtet sich, ob Zellen sich teilen, Enzyme freigesetzt, Gene anoder abgeschaltet werden. Je nach Tagesund Nachtzeit sind bis zu einem Drittel unserer Gene aktiviert oder deaktiviert. Aus biochemischer Perspektive betrachtet sind sich zwei verschiedene Individuen zur gleichen Zeit ähnlicher als zu sich selbst in zwölf Stunden.

Ein ganzer Forschungszweig hat sich der inneren Uhr verschrieben: die Chronobiologie. Prof. Dr. Till Roenneberg gilt als führender Chronobiologe Deutschlands. Am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München geht er den Regeln des menschlichen Rhythmus auf den Grund.

„Welchen Chronotypus ein Mensch besitzt, wird schon zur Geburt festgelegt. Man unterscheidet zwischen Eulen und Lerchen – also Menschen, die eher später oder früher aufstehen und schlafen gehen. Jeder Mensch hat einen unterschiedlichen Chronotypen, vergleichbar mit Merkmalen wie Haarfarbe oder Körpergröße; nur wenige Menschen sind extreme Frühoder Spät-Typen, der Großteil aller Menschen liegt irgendwo dazwischen“, sagt Prof. Roenneberg. Die Uhren ticken unterschiedlich schnell: Frühe Typen erleben kürzere innere Tage, Eulen längere. Diese Prädisposition kann nicht abtrainiert werden – dafür aber im Labor erkannt werden. Zeig mir deine Zellen und ich sage dir, wann du wach bist.

Damit unsere innere Uhr richtig läuft, muss sie sich jeden Tag neu stellen. Verschiedene Signale der Umwelt, Zeitgeber genannt, sind dafür verantwortlich. Das können Temperatur, Körperaktivität oder Nährstoffe sein – allen voran aber ist es das Licht. Die Sonne. Bis auf gelegentliche Unregelmäßigkeiten in nördlichen und südlichen Breiten dient sie fast allen Organismen als die zuverlässigste Orientierung. Ihr Stand hilft den Organismen, die Tageszeit zu bestimmen – wichtig für die zeitgebundenen Körperfunktionen.

In der Nacht werden Sinneszellen auf der Netzhaut erneuert, die so jung noch zu empfindlich auf Licht reagieren würden. Alkoholverträglichkeit, Wachstum, Heilungsprozesse, Körpertemperatur, Hungerund Durstempfinden richten sich nach der endogenen Uhr. Die innere Zeit wird hauptsächlich über das Schlafhormon Melatonin weitergegeben, das den Zellen je nach Konzentration mehr oder weniger Dunkelheit signalisiert. Der Mensch nimmt Licht ausschließlich über die Augen wahr – das ist selbst bei Blinden so. „Die Wahrnehmung von Licht und Dunkelheit findet unabhängig vom Sehprozess statt“, sagt Roenneberg. Trotzdem gebe es Einzelfälle (etwa fünf Prozent aller Blinden), in denen Menschen auch diese Sinneszellen fehlten.

Der Mediziner Jürgen Aschoff erforschte am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie die Funktion der Sonne als Zeitgeber für die innere Uhr. Ein alter Wehrmachtsbunker diente ihm als Versuchsraum, in dem ausgewählte Probanden drei bis vier Wochen völlig isoliert leben sollten. Rund 300 Testpersonen untersuchte er bis in die 80er Jahre hinein. Auch Phillip hatte das Experiment gewagt. Seit sechs Wochen saß er im Bunker und bereitete sich auf sein Examen vor. Ohne Fenster. Ohne Uhren. Ohne Fernseher. Nur ein Plattenspieler war vorhanden, den er zum Eierkochen nutzen konnte, weil eine Platte genau drei Minuten dauerte. Ein Wohn-Schlafzimmer gab es,
eine Dusche und eine Toilette, auch eine kleine Küche. Eine Doppeltür war die einzige Verbindung zur Außenwelt. Hier wurden Lebensmittel hinterlegt – immer zu wechselnden Uhrzeiten, um der Testperson keine Anhaltspunkte auf die Uhrzeit zu geben. Phillip sollte ganz normal leben, keinen Mittagsschlaf halten und drei Mahlzeiten am Tag einnehmen.

Alles wurde ausgewertet: rektale Temperaturmessungen, der Kalziumund Kaliumgehalt des Urins, oder die Ergebnisse der Untersuchungen über seine Fähigkeit, die Dauer von 20 Sekunden oder 60 Minuten abzuschätzen. Tag um Tag verging, und immer nach dem Aufwachen vermerkte Phillip den neuen Tag mit einem Strich auf Papier. Fast war die Zeit vorbei – noch zwei Wochen, dachte er sich, dann ist es geschafft. Und plötzlich ging die Tür auf. Aschoff begrüßte ihn, sagte, die Zeit sei jetzt vorbei. Phillip protestierte heftig: das könne nicht sein, seine Vorbereitungen seien noch nicht beendet, es seien erst sechs Wochen vergangen. Der Versuchsleiter zeigte ihm zum Beweis die Tageszeitung. Es waren tatsächlich acht Wochen vergangen.

Und so stellte man fest, dass die endogene Uhr ohne äußere Einflüsse außer Kontrolle gerät. Die Tage der Versuchspersonen dauerten durchschnittlich nicht mehr 24 Stunden, sondern 24,7 bis 25,2 – in Extremfällen sogar 50. An manchen Tagen hatte Phillip 33 Stunden gearbeitet und 17 Stunden geschlafen. Trotzdem ging er nicht häufiger auf die Toilette und aß nur drei Mahlzeiten am Tag. Warum man dennoch irgendwann einschläft, hängt mit einem homöostatischen Prozess (dem Schlafdruck) zusammen, der sich im Laufe des Tages aufbaut und den Schlafwunsch stetig verstärkt. Phillip bekam übrigens einen neuen Prüfungstermin.

Einer der Rhythmen, in dem unsere innere Uhr läuft, heißt circadianer (lat. circa = etwa, dian = Tag) Rhythmus. Würden wir uns nicht nach der Sonne richten – drinnen reicht schon ein kurzer Blick aus dem Fenster – würde unsere innere Uhr freilaufen; wir würden vollkommen das Zeitgefühl verlieren. Johann Gottfried Zinn untersuchte diesen Rhythmus 1759 erstmals bei der Gartenbohne und erkannte, dass diese ihre Blattbewegungen selbst bei andauernder Dunkelheit fortführte – ein Mechanismus, um schon vor Sonnenaufgang für die Photosynthese gerüstet zu sein.

Bleibt die Frage, warum sich der Mensch nicht an den 24-Stunden-Rhythmus des Sonnensystems angepasst hat: Weil er es gar nicht musste, solange die innere Uhr sich synchronisierte. Ein Selektionsprozess hat nie stattgefunden. Zwei von drei Menschen sind Normal- oder Spät-Typen, nur wenige Menschen sind absolute Frühaufsteher. Warum fängt der frühe Vogel dann den Wurm, mahlt wer zuerst kommt auch zuerst und hat die Morgenstund Gold im Mund? „Das ist ein Relikt aus der Agrarzeit“, weiß Roenneberg. „Aus einer Zeit, in der man um Ressourcen kämpfen musste. Ein russisches Sprichwort besagt: ‚Der frühe Wanderer kriegt die Pilze, der späte nur die Nesseln‘. Es sind ökonomische Gründe, die zum frühen Aufstehen geführt haben. Wer früh in den Wald ging und Pilze sammelte, konnte nicht nur die Familie ernähren, sondern die restlichen Pilze auch noch verkaufen. Ein Spät-Typ bekam die Pilze erst in zwei oder drei Tagen – ein klares Ressourcenproblem, das aber in der modernen Gesellschaft ad absurdum geführt wird. Die Spättypen könnten ja sagen: Ich gehe in den Wald, kurz bevor ich ins Bett gehe, dann gucken die frühen Chronotypen morgens ganz schön in die Röhre. Früher war das nicht möglich. Die endogene Uhr wird nicht mehr so knallhart gestellt wie in einer Agrar-Bevölkerung. Wenn wir uns immer nur drinnen bewegen, bekommen wir tausendmal weniger Licht als ein Landarbeiter. Da wir immer weniger Zeit im Freien verbringen, hat die innere Uhr zunehmend Probleme, sich richtig einzustellen.“

Ein weiteres Problem ist, dass wir nicht in Einklang mit unserer endogenen Uhr leben. Weil wir meist erst mit ihr schlafen gehen, oft nicht aber mit ihr aufwachen – sondern durch den Wecker – leiden besonders Spättypen unter Schlafmangel. Roenneberg nennt das einen „sozialen Jetlag“. Die zweite Hälfte des Schlafes fällt bei Eulen oft dem Alltag zum Opfer. Schlafmangel schwächt das Immunsystem und verringert die körperliche und geistige Aktivität, langfristig können Herz-Kreislaufoder Magen-Darm-Erkrankungen, Schlafstörungen, Energielosigkeit, Verstimmungen und Depressionen die Folge sein. Viele Betroffene griffen vermehrt zu stimulierenden Substanzen wie Zigaretten, hat Roenneberg herausgefunden.

Nachtarbeiter haben es besonders schwer. Wenn sie aktiv sind, ist ihr Körper auf Schlafen eingestellt. Die Folgen: Konzentrationsund Verdauungsschwäche beim Arbeiten, der Blutdruck sinkt, der Atem wird flacher; hohes Toilettenbedürfnis und hoher Magensäuregehalt beim Schlafen am Tag. Der Schlaf ist oft kein natürlicher mehr, sondern die Folge von Erschöpfung.

Deshalb rät Roenneberg, flexible Arbeitszeiten zu nutzen und die Außenzeit der Innenzeit möglichst gut anzupassen. Dabei hilft auch die Verstärkung der Zeitgeber: „Licht am Morgen stellt die innere Uhr vor, Licht am Abend stellt sie nach“, sagt Roenneberg. Lerchen sollten daher morgens Sonnenbrillen tragen und nachmittags unter Tageslicht spazieren gehen, Eulen umgekehrt.

Roenneberg hat außerdem herausgefunden, dass sich der Chronotyp mit zunehmendem Alter verändert: Kinder sind frühe Chronotypen, deren endogene Uhr sich bis zum Ende der Pubertät immer weiter nach hinten verschiebt. Bei Frauen endet dieser Prozess im Schnitt mit 19,5 Jahren, bei Männern mit 20,9. Dann verfrüht sich der Chronotyp der Menschen wieder zunehmend, meist hormonell bedingt. Mit dem Alter wird das circadiane System schwächer und unpräziser.

„Die endogene Uhr ist ja auch nichts Gottgegebenes“, sagt Prof. Roenneberg, „da kommt kein Mann mit einem weißen Bart und setzt uns eine Art Wecker ins Herz. Letztlich ist sie nur eine Regulationshilfe – und wenn die nicht hilft, dann wird sie einfach abgestellt.“

Einsicht und Toleranz wünscht sich Woog von „Delta t“ indes für betroffene Eulen in ganz Deutschland: „Man müsste die Frühaufsteherkultur hier umkrempeln. In fast allen anderen Ländern leben die Menschen später, nur die Schweizer wollen alles früher machen.“ Mit seinem Verein trifft sich Günter Woog nur unregelmäßig. „Wir sind ja keine Selbsthilfegruppe.“ Irgendwann aber will er mit den Vereinskumpanen eine Schlafreise machen – am besten an den nördlichen Polarkreis, wenn es ganz, ganz dunkel ist – „damit man einfach sagen kann: ‚Gute Nacht, ich gehe jetzt schlafen.‘“

Erschienen im Buch nachts in darmstadt. Foto: Anton Novoselov

Erschienen in am 17. September 2011.



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