Der Design-Diplomat

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Es gibt ein Wort, das David Glättli nicht so gern hört, erst recht nicht, wenn es um seine Ideen geht: musukashii. Wenn Glättli in einem Raum voller Japaner sitzt und ein Produkt vorstellt und einer „musukashii“, also „schwierig“, sagt, dann kann das bedeuten, dass es schwierig, aber machbar ist. Oder dass es zu kompliziert ist, um gebaut werden zu können. Oder aber, dass es gebaut werden könnte, den Verantwortlichen aber nicht gefällt, weshalb es doch nicht hergestellt wird. David Glättli muss dann den Fährten folgen, die in den Zwischentönen mitschwingen. In Japan heißt das: die Luft lesen können.

Zum Glück ist David Glättli Schweizer und daher vertraut mit der hohen Kunst des Nichtssagens. „Man kann zwar nicht aussprechen, was man denkt, muss vieles aber auch nicht sagen, weil jeder weiß, was gemeint ist.“ In gewisser Weise findet er das auch ganz angenehm. Und so fühlt sich Glättli, der Schweizer, an manchen Tagen sehr japanisch. David Glättli ist der einzige Europäer, der in Japan für Karimoku arbeitet, den größten Holzmöbelhersteller des Landes. Karimoku ist ein traditionsreiches Familienunternehmen mit über 90 Jahre alter Geschichte. Der Showroom erinnert an eine Filiale von Möbel Höffner: ein riesiger Klotz in der Präfektur Aichi, eine Dreiviertelstunde von Nagoya entfernt. Von der Louis-XV-Kollektion bis hin zu 80er-Jahre-Möbeln ist aus allen Epochen etwas dabei, gesichtslose Stühle und Schränke, immerhin erdbebenfest. Für wohlhabende Leute, Politiker etwa, sind die Möbel größer und wuchtiger, „denn die haben Platz in der Wohnung“, erklärt Kōji Yokoi von Karimoku. Es gibt die High-End-Linie „Domani“ („soll italienisch klingen“) und Betten in Kooperation mit Hülsta, denn das ist „deutsche Qualitätsware“.

Karimoku ging es lange Zeit ziemlich gut in Japan, das Unternehmen hat im Laufe der Jahre 1600 Mitarbeiter und 20 000 Möbel angehäuft. „Das sind zu viele“, sagt Manager Kōji Yokoi. „Aber so lief lange das Geschäft: Wo Nachfrage da war, entwickelten wir ein Produkt.“ Früher, in besseren Zeiten, haben die Eltern einer Braut nach der Hochzeit Möbel von Karimoku gekauft und sind in einem großen Lkw mit transparenten Planen durch die Stadt gefahren: Schaut, wir können uns was leisten! Seit aber die Wirtschaft schrumpft und mit ihr der Markt; und seit die Gesellschaft überaltert, kauft kaum noch jemand Möbel. Das Werk läuft heute mit halber Kapazität.

Karimoku musste gegensteuern. Ziel: internationale Präsenz stärken. David Glättli ist da irgendwie so reingerutscht, nach seinem Designstudium in Mailand und dem Abschluss an der Écal in Lausanne. Er lernte japanisch, nur aus Interesse, und ging nach Osaka – es hieß, dort könne man leicht Anschluss finden. So dauerte es nicht lange, bis Glättli den Designer Teruhiro Yanagihara kennenlernte, der wiederum für Karimoku arbeitete. Er sollte jüngere Möbel machen, irgendwie skandinavischer, das hatte schon in den Sechzigern funktioniert: Mit Stücken, die an die Werke von Arne Jacobsen erinnern, war der kleine Holzbaubetrieb rasant gewachsen.

„High-Tech und High-Touch“ heißt bei Karimoku das Motto: Mensch und Maschine arbeiten Hand in Hand. Und wenn es schon keine Fachkräfte aus dem Ausland gibt, kommen zumindest viele der Roboter aus Deutschland, einige aus Italien. „Die weigern sich aber häufiger mal, zu arbeiten“, sagt Kōji Yokoi. „Dafür sind sie nicht so stur wie die deutschen.“ Ständig werfen die 70 angestellten Designer neue Produkte auf den Markt. „Unsere Qualität ist wirklich herausragend“, sagt Kōji Yokoi, „nur am Aussehen mangelt es etwas.“ Aber dafür gibt es ja jetzt den Schweizer.

Vielleicht passt David Glättli auch deshalb so gut ins Unternehmen, weil Schweizer bei Japanern immer einen Stein im Brett haben – mehr noch als andere Europäer und nicht nur, weil sie nicht als Kolonialmacht auftraten. Schon 1864 stellte die Schweiz ihre Handelsbeziehungen mit dem vorher recht abgeschotteten Japan auf eine rechtliche Basis. Die schweizerische teilt mit der japanischen Kultur nicht nur das Bewusstsein für Qualität, sondern auch für Innovation und Automation. Beide Kulturkreise schätzen die distanzierte Höflichkeit. „Der Wohlstand beider Länder“, schrieb unlängst die „NZZ“, „ist in sehr großem Maße von der Integration in die Weltwirtschaft abhängig. Gleichzeitig besteht ein ausgeprägter Hang zum insularen Denken.“

Doch als David Glättli unter Teruhiro Yanagihara beginnt, Möbel für Karimoku zu entwerfen, merkt er schnell: „Das passte nirgendwo rein.“ Gemeinsam schlagen sie vor, eine neue Untermarke zu gründen: „Karimoku New Standard“. Das klang wegweisend. Das würde auch in Europa funktionieren. Der Juniorchef zeigte sich überzeugt, erinnert sich Glättli: „Ich weiß noch, wie er beim ersten Treffen sagte: ‚Das machen wir!‘ Und alle anderen wurden bleich.“ Denn für Karimoku ist es ein kostspieliges Unterfangen. Frühere Versuche, nach Europa zu gehen, waren krachend gescheitert. Die Qualität: phantastisch, aber die Möbel: viel zu klein. Vom Design ganz zu schweigen.

Und ein Schweizer soll’s richten? Die Altvorderen im Vorstand lassen sich nur überzeugen, weil „New Standard“ die japanische Forstwirtschaft stärken soll. Nach Finnland und Schweden ist Japan die waldreichste Industrienation, fast 70 Prozent des Landes sind mit Wald bedeckt (in Deutschland sind es 32 Prozent). Für die neue Linie soll nur Hartholz kleiner Bäume verwendet werden, die bei der Durchforstung des Waldes geschlagen werden. Das ist üblich, weil Wälder eng gepflanzt und schwache Bäume später entfernt werden. Ein ganzer Geschäftszweig entsteht, denn bislang nutzt niemand in Japan dieses Holz in dem Ausmaß. „Wir verarbeiten Eiche, Esche, Ahorn und Kastanie“, sagt David Glättli. „Lokal und ökologisch.“

Nur: wie soll ein Möbelstück aussehen, das ins pulsierend dichte Tokio genauso passt wie in den ausgeruhten Harz? „Die Idee ist nicht, von einem Produkt zwei Versionen herzustellen“, sagt Glättli, „sondern eine, die an beiden Orten funktioniert.“ Heißt: nicht das Mittelmaß der Dinge zu finden, sondern einen anderen Weg, so dass das Möbelstück verschiedene Funktionen in verschiedenen Märkten erfüllt. Seit 2008 gibt es „New Standard“ (auf der Design Week in Tokio räumte die Marke damals alle Preise ab), seit 2012 ist Glättli alleiniger Art Director. Er hat acht namhafte Designer verpflichtet, die daran arbeiten, die Vision eines universalen Möbels zu verwirklichen.

Da ist etwa das bewusst an Le Corbusiers „Grand Comfort Sofa“ angelehnte Sofa „Castor“ vom Designstudio Big-Game, das, zugeschnitten auf japanische Maße, auch von hinten eine gute Figur macht. Es traf eine Nische in Europa, wo fast alle Sofas riesengroß sind, nicht aber die Auswahl für eine kleine Wohnung oder ein Gästezimmer. Oder den zugehörigen Stuhl, der an einen Shinto-Schrein erinnert. Für japanische Wohnungen hat er eine gute Größe, in Europa ist er als Bistromöbel beliebt. Viele der Designer sind mit Karimoku gewachsen (Glättli kannte einige vom Studium oder durch Freunde), heute entwerfen sie für Hay, Moroso, Georg Jensen. Der Designer Lucien Gumy, der ebenfalls an der Écal studiert hat, hatte an der Schule ein Projekt mit Alessi gemacht und in Mailand gezeigt: einen kleinen Papierhalter aus Holz. „Den fand ich sehr schön, da habe ich Lucien gefragt, ob der produziert wurde.“ Wurde er nicht – jetzt stellt Karimoku den „Berra“ her.

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Was anfing als Serie kleiner Objekte, die man überall einsetzen kann, ohne dass man alles in einem Stil einrichten muss, ist so langsam zu einem kohärenten Gefüge zusammengewachsen. Die Produkte sind in immer mehr Geschäften in Europa erhältlich. David Glättli kann den Spagat zwischen Ost und West vielleicht auch deshalb so gut meistern, weil er lange mit Frau und Möbeln in einem Machiya in Kyoto gewohnt hat – einem hundertjährigen traditionellen japanischen Reihenhaus mit Tatamimatten auf dem Boden, das nicht viel Komfort bot, im Winter beißend kalt und im Sommer brütend heiß war. Durch die Ritzen in der Hauswand hindurch konnte er sich mit den Nachbarn unterhalten.

Er hat jetzt ein Kind, und mittlerweile wohnt die Familie in einer für japanische Verhältnisse großzügigen Wohnung im Tokioter Stadtteil Meguro. Die Faszination für den Genius Loci japanischer Häuser aber ist geblieben. „In Japan ist immer eine geistige Linie dabei“, sagt Glättli. Es sei bei weitem nicht so streng und funktional wie in der Schweiz. „Ich finde das faszinierend, weil es sich nicht in Worte fassen lässt. Zum Beispiel die Tokonoma: eine kleine ausgestaltete Nische im Raum zum besseren Wirken einzelner Gegenstände, die schön aussieht, aber wenn man es genau betrachtet, ergibt das funktional überhaupt keinen Sinn.“

Nur: das junge, japanische Design vermisst er. „Ich habe etwas Mühe, zeitgenössisches japanisches Design zu erkennen“, klagt Glättli. „Nach Noguchi hat es sich irgendwie verloren.“ Deshalb arbeitet er hauptsächlich mit aufstrebenden europäischen Designern zusammen. Mit scharfem Auge wacht er über die Entwicklung der Ideen: „Zuerst will ich, dass sie die Fabrik sehen; dass sie mit eigenen Augen sehen, wie hier produziert wird, dass sie das Bewusstsein entwickeln, dass das, was entworfen wird, wie zwingend von Karimoku hergestellt werden muss. Viele Entwürfe sehen toll aus, aber die kann man auch in der Schweiz produzieren.“

Was beispielsweise schwer machbar ist in Kontinentaleuropa, ist der von der traditionellen Yatoi-Sanetsugi-Technik inspirierte Tisch „Colour Wood“ vom Designstudio Scholten & Baijings. Sein Fuß besteht aus 15 einzelnen Holzplanken, die in einem präzise geschnittenen Winkel um ein Gerüst herum geformt werden. Oder der Hocker – „Colour Stool“ – aus der gleichen Reihe, dessen Sitzfläche mit einem feinen, gekerbten Raster überzogen ist. Die Farbe wurde aufgesprüht und der Übertrag anschließend von Hand abgeschliffen. „Der Hocker trägt die klare Handschrift der Designer“, sagt David Glättli, „und wer ihn sieht, weiß sofort, dass er besonders ist. Dass es Skills braucht, so etwas zu fertigen. Am Anfang hat Karimoku gedacht, das geht gar nicht.“

Musukashii eben, schwierig, aber am Ende haben sie es doch hingekriegt. Hie und da gibt es natürlich Probleme – etwa mit dem Barhocker, der einen Ring aus Holz bekommen soll. „Sieht einfach aus, klappt aber nicht“, sagt Glättli. „Artek biegt schon seit 80 Jahren Holz, aber die machen das aus Sperrholz, und das können sie auch.“ Karimoku arbeitet aber mit Massivholz – und das lässt sich nicht leicht biegen. Doch Glättli ist optimistisch, dass auch dieses Problem bald gelöst sein wird.

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Denn wenn es um die Holzverarbeitung und Oberflächenveredelung geht, macht den Japanern keiner etwas vor. „So muss es sein. Das muss Sinn haben, es in Japan zu bauen und nach Europa zu schiffen, das kann nicht der Selbstzweck sein, wenn man das auch in Europa herstellen könnte.“ David Glättli arbeitet daran, den Leitgedanken von Karimoku in die Welt zu tragen: höchste Qualität und Handwerkskunst ohne Kompromisse. Robuste, aber schöne Möbel. Er will, dass die Kunden verstehen, warum drei Servierteller etwa knapp 500 Euro kosten (und in Onlineshops überall in höchsten Tönen für das gute Preis-Leistungs-Verhältnis gelobt werden).

Dass der Schweizer in gewisser Weise Wunder zu wirken vermag, hat sich längst herumgesprochen. David Glättli hilft längst auch anderen kleinen und großen Herstellern in Japan, die Brücke nach Europa zu schlagen. Für manche Firmen ist es der einzige Weg, in einer globalisierten Welt eine Zukunft zu finden. Zuletzt wurde er überschwenglich für das „Arita Project“ gefeiert, die „Wiedergeburt“ der mehr als 400 Jahre alten Heimstätte japanischen Porzellans. Für das Projekt brachte er die bedeutendsten Keramikmanufakturen des Landes mit 16 internationalen Designern zusammen.

Denn das ist es, was David Glättli wohl am besten kann: vermitteln, Zweifel ausräumen und Menschen verschiedener Kulturen zusammenbringen. Er ist gewissermaßen ein Design-Diplomat, und das ist ja nun nicht die schlechteste Berufung. In Mailand und Köln zeigt Karimoku mittlerweile zwischen den Größten der Branche: herausragende Technologie, zurückhaltendes Design, großen Komfort – ein Sinnbild Japans. Und Glättlis Engagement hat auch den internen Wettbewerb angefeuert. Er hat den jungen Designern Mut gemacht, aus dem Schatten der alten zu springen. Bei „Karimoku New Standard“ kommen neuerdings auch sie zum Zuge, dort treffen alte auf neue Werte – und selten lagen die Schweiz und Japan so nah beieinander.

Erschienen in am 23. November 2017.



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