Gestrickt aus der Krise

Von der Zeit in New York blieb nichts als eine Analogie. Heute nennt Steinunn Sigurðardóttir die Gegend um ihr Atelier am alten Hafen von Reykjavík, in der sich neuerdings viele Galerien und Geschäfte ansiedeln, liebevoll den „Fishpacking District“. Als Kind saß sie viel bei der Großmutter und strickte, während der Vater zur See war, wie viele andere Väter. Steinunn Sigurðardóttir gilt heute als eine der erfolgreichsten Designerinnen des Landes. Der Strick, sagt sie, der sie in jungen Jahren ihrer Großmutter näherbrachte, hat sie dorthin gebracht, wo sie heute steht.

Der Weg von Steinunn Sigurðardóttir war nicht vorgezeichnet, aber vielleicht unvermeidlich für ein Mädchen, das eine Zuflucht in der Mode suchte. Irgendwann fliehen viele Isländer aus der Einöde zwischen New York und Paris, die mitten in der Welt liegt und doch von all dem Mondänen weit entfernt. Steinunn war noch nie im Ausland gewesen, als sie nach New York ging, um an der Parsons School ihr Modestudium aufzunehmen. Aber das Talent, etwas zu stricken, das ihrer Vorstellungskraft entwuchs, bereitete ihr eine schnelle Karriere. Sie wurde Chefdesignerin bei Ralph Lauren, später Designdirektorin für Tom Ford bei Gucci und für Calvin Klein in New York, schließlich verantwortete sie die Prêt-à-Porter-Kollektionen von La Perla in Bologna.

Steinunn

Irgendwann, sagt Steinunn heute, hatte sie genug vom Fliegen und vom dauernden Neubeginn. Sie fragte sich: Was will ich tun, wenn ich älter bin? Sie holte ein paar Tausender von der Bank, ging zurück nach Island und baute dort ihre eigene Linie „Steinunn“ auf, angeregt von den Gletschern, der Lava, den schweren Wintern. Steinunns Garderobe wechselte von schneeweiß zu schneeschwarz, auch ihre Kollektionen sind so dunkel wie die isländische Nacht, die Kundinnen kaufen kaum etwas anderes. Das Signet der Marke sind in Form gestrickte Maschenwaren mit reichlich Rüschen, auch in Form von Borten als Kopfschmuck. Es verkauft sich auch so, Modenschauen macht sie nicht: „Da, wo ich gearbeitet habe, war ich umgeben von den besten und klügsten Köpfen der Branche. Die leben in den Metropolen, aber ich lebe jetzt hier.“

Die isländische Mode kennt kaum kommerzielle Denke und angejahrten Standesdünkel. In Island galt Geld lange nicht als Statussymbol. Die Menschen haben seit jeher mehr als nur einen Job, vielleicht sind sie deshalb so lebendig, und vielleicht ist die isländische Mode deshalb so jenseits dessen, was uns begreiflich scheint.

Nicht von ungefähr bringt der hohe Norden, der so kalt und rauh ist, so viel Schönes hervor: Natur, Musik, Mode und Menschen – als ob man dem schlechten Wetter etwas entgegensetzen müsste. Im Winter sieht Island die Sonne über Monate nicht. Für manche Bewohner ist ihre Schaffenskraft das Heilmittel gegen Dunkelheit, Stille und Einsamkeit. „Bis vor wenigen Jahren lernten alle Mädchen in der Schule noch stricken“, sagt Steinunn. „Es ist eine Schande, dass sie es nicht mehr tun.“

Bis ins 20. Jahrhundert war Island eine rückständige Kolonie unter dänischer Ägide. Dann wurden aus Fischern und Hirten plötzlich Dienstleister. Dem ungezügelten Wirtschaftswachstum folgte der Kollaps auf dem Fuße. Die Wunden der Krise heilen nur langsam, Milliardäre gibt es hier nicht mehr, und die Regierung hat sich verpflichtet, noch mehr als 30 Jahre die geprellten Kunden der Icesave-Bank zu entschädigen. Nach dem Einbruch der Banken, der Island an den Rand eines Staatsbankrotts brachte, sollen die Kreativen das Land als neue Modenation etablieren.

In einer Branche, die auf Importe angewiesen ist, erweist sich das als besonders schwierig. „Das Erstarken der Währung hat besonders die Firmen getroffen, die im Ausland produzieren“, sagt Steinunn. „Nach dem Crash mussten wir das Doppelte zahlen.“ Steinunn produziert seit 15 Jahren in Hongkong und dem Baltikum, weil es in Island an den Maschinen für ihre Stücke fehlt. In der Krise brach ihr der Millionenumsatz weg, und die Rüschen, Borten und Details, die sie zuvor auf die Kleidung aufgenäht hatte, verkaufte sie nun einzeln dazu. „Ich wollte in der Krise meine Ästhetik nicht verlieren“, sagt sie. „Bis heute bleibt es mir ein Wunder, dass ich sie überstanden habe.“ Die „Kreppa“ brachte aber auch einen fruchtbaren Umschwung mit sich. „Plötzlich haben die Kreativen in Island zusammengearbeitet. Wir hatten ja nichts mehr zu verlieren.“

Für manche war es die Chance zum Aufbruch. Helga Björnsson etwa kehrte nach vielen Jahren dem Couture-Haus Louis Féraud in Paris den Rücken, um in ihre alte Heimat zurückzukehren. Hier arbeitet sie nun als Designerin für den Kürschner Eggert Jóhannsson, auch er ein ehemaliger Fischer, der, nachdem er in Bremerhaven einen Pelzladen sah, 1977 sein Atelier in Reykjavík eröffnete. Heute beliefert Jóhannsson nicht nur seine Kunden in Island, sondern auch Maßschneider auf der Londoner Savile Row. Helga Björnsson soll seine Kollektionen auf Linie bringen, aktuell mit Wendemänteln, die außen naturfarben sind, innen warnfarben. Helga Björnsson verbindet den Pelz mit Naturstoffen, mit Leder und Fischhäuten – Mode immer als Zeichen des Widerstands gegen die Unbilden der Natur.

Für ein Land im hohen Norden, das weniger Einwohner hat als Bielefeld, ist die Dichte an kreativen Gemütern indes erstaunlich. Im Durchschnitt hat jeder Isländer schon ein Buch geschrieben, ist vielleicht Schauspieler, Bildhauer und Designer zugleich. Dennoch hat isländische Mode die Bekanntheit der skandinavischen Nachbarn nie erreicht. „Vielleicht ist das alles zu avantgarde“, sagt Steinunn, deren Namensvetterin eine Bestseller-Autorin ist. Vielleicht ist die Zeit auch noch nicht so weit. Skandinavischer Minimalismus und Purismus hat viele Namen: Acne, J. Lindeberg, Marimekko und Stine Goya. Von Island kennen viele nicht mehr als einen Vulkan mit unaussprechlichem Namen, der die Wirtschaft Europas für kurze Zeit aus den Fugen zu heben vermochte.
Designfest und Modetag sind nationale Ereignisse

Auch die meisten Isländer scheinen örtliche Designer nicht zu schätzen. Sie kaufen ein Drittel ihrer Kleidung im Ausland, denn es gibt kaum Billigmarken im Land, kein Zara, kein Bershka, kein Primark. Viele tragen auch H&M, dabei haben die Schweden in Island nicht einmal eine Filiale. Die großen Ketten hier heißen Geysir und 66° North mit einer Handvoll Filialen, sie bieten Funktionskleidung und traditionelle Strickwaren an. Von Kiosk über KronKron bis Spaksmannsspjarir gibt es dagegen viele Läden mit teurer Mode, die neben örtlichen Designern auch Namen wie Henrik Vibskov, Sonia Rykiel und Marc Jacobs führen: etwas Skandinavien, un peu de Paris, ein bisschen New York. Es gibt seit einigen Jahren mehr Souvenirshops als früher, und die Boutiquen ziehen sich von der Laugarvegur, dem Ku’damm des Landes, in die Nebenstraßen zurück, so wie es Steinunn an den alten Hafen zog.

Touristen kommen nicht der Mode wegen nach Island. Sie kaufen etwas Funktionskleidung und einen Lopapeysa vielleicht, den Islandpullover, den viele nur als Norwegerpullover kennen. Ja, der mit dem Zackenmuster. Auch der Lopapeysa ist schließlich äußerst funktional: Isländische Schafe liefern eine besondere Wolle, die von Natur aus wasserabweisend ist und hervorragend vor Kälte schützt. Island will aber mehr sein als dieser Pulli. Es gibt ein mehrtägiges Designfest, das auch dem Land als PR in eigener Sache dient. In der Harpa, dem hypermodernen Konferenzzentrum, das man eigentlich nur gebaut hat, um eines zu haben, findet ein Tag der Mode statt. Designfest und Modetag sind sehr beliebt im Land, übertragen auf deutsche Maßstäbe sogar beachtlich: Acht Millionen Menschen würden umgerechnet kommen, Joachim Gauck lüde zum Kaffee ein, und das Kunstgewerbemuseum würde in einer Ausstellung Mode von Angela Merkel zeigen.

Damit es mit der Mode im hohen Norden auch international bergauf geht, fehlt den Machern die Unterstützung der Regierung. Hohe Materialkosten und hohe Besteuerung bringen Modeschöpfer in eine missliche Lage. Sie können kaum hochwertige Stoffe beziehen, denn vieles muss auf dem Festland produziert werden, und Musterstücke würden vom Zoll grundsätzlich zerschnitten, klagt Guðmundur Jörundsson, der auch aus einer Fischerfamilie stammt und mit seinem Label Jör als erfolgreichster Jungdesigner gilt.

Mit seinem Mix aus Goth und Punk ist er so etwas wie der Riccardo Tisci des Polarkreises. Seine Marke ist kein Jahr alt, aber der Laden gleicht schon jetzt dem einer Traditionsmarke. Guðmundur war früher Mitarbeiter des Herren-Ausstatters Kormakur & Skjöldur, ehe er sich mit größtenteils monochromer Mode selbständig machte. „Mode ist noch sehr neu auf Island“, sagt er, „sie ist nicht vom Markt beeinflusst.“ Dennoch stünden die Designer vor der Herausforderung, langfristig global funktionierende Kollektionen zu schaffen, weil sie vom Export abhängig sind.

Jör produziert heute schon Teile in der Türkei, aber er schätzt das Netzwerk der Helfer, das sich in Island bietet: „Es ist ein Geschenk, hier aufgewachsen zu sein.“ Trotzdem möchte Guðmundur Jörundsson irgendwann wegziehen, aber nicht für lange, wie er sagt. In Island, wo sich alle kennen, haben junge Modemacher schnell einen Namen. Viele Labels versuchen deshalb, vor allem im Ausland Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie zeigen wie Sruli Recht auf der Pariser Modewoche oder wie Bergþóra Guðnadóttir in Kopenhagen. Ihr Label „Farmers Market“ verkauft sich auch bei Touristen gut, weil es alte Muster wahrt: Die Designerin nutzt Wolle, Baumwolle, Leinen und Seide, um klassische skandinavische Stücke zu gestalten.
„Ihnen fehlt die Größe, um international zu werden“

Gerade die jüngeren Designer gehen oft anderer Wege. Sie kommen vom Central Saint Martins in London oder von der mittlerweile recht renommierten isländischen Akademie der Künste, experimentieren mit Digitalprints, heißen Magnea oder REY, haben wie Sigga Maija schon für Sonia Rykiel gearbeitet oder wie Rakel Sölvadóttir beachtliche Abschlusskollektionen hingelegt, die Lady Gaga trägt. Designerin Hildur Yeoman war ursprünglich Illustratorin, machte dann Schmuck, von dessen Verkauf in Tokio, London und New York sie längst leben kann, und jetzt eben Mode. „Wir sollten uns nicht verstellen“, sagt sie. „Wir können nicht mit Paris oder Mailand mithalten. Die Leute kommen nach Island, um etwas anderes zu sehen.“

Guðmundur Hallgrímsson, der sich Mundi nennt und nach Berlin gezogen ist, will ohne das vermeintliche Island-Stigma erfolgreich werden. Seine Karriere begann er während des Grafik-Studiums mit einem selbstgestrickten Pullover, auf den er so häufig angesprochen wurde, bis KronKron ihn ins Sortiment aufnahm. „Zu viele Leute in Island versuchen, die Mode neu zu erfinden“, sagt Mundi. „Aber ihnen fehlt die Größe, um international zu werden.“ Auch Mundi strickt viel, aber der Drang nach Schönheit in der Branche stört ihn, und er nimmt kaum Anleihen an die Herrlichkeit der ihn umgebenden Natur. Ihn langweile das etwas, seine Stücke drehten sich deshalb um das Weltall oder die Unterwasserwelt. Aber ob er nun wolle oder nicht, auch er sei von der Natur inspiriert. „So ist das nun einmal“, sagt Mundi, „wenn man an einem der schönsten Orte der Welt aufwächst.“

Die isländische Mode ist jenseits dessen, was uns begreiflich scheint.

Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung am 2. Juli 2014.



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