Noch nicht Weltmeister

An den kleinen Dingen sollte man sich erfreuen. Da sah der Münchner Designer Marcel Ostertag in Hamburg an der Lidl-Kasse eine hübsche, schmale, große Verkäuferin und redete auf sie ein, bis die Schlange hinter ihm lang und länger wurde. Am Ende hatte er die Handynummer der Psychologie-Studentin, die sich an der Kasse ihren Lebensunterhalt verdient. Und ganz am Ende präsentierte Laura Peeters aus Anlass der Mercedes-Benz Fashion Week in Berlin in dieser Woche einen Entwurf des Modemachers für Frühjahr und Sommer 2015 auf dem Laufsteg.

Das sind Geschichten, wie Berlin sie braucht. Sie lenken zwar davon ab, dass die Marcel-Ostertag-Kollektion den Lauf der Modegeschichte nicht ändern wird, dass überhaupt vieles bei den Schauen und bei den gleichzeitig stattfindenden Modemessen wie „Bread & Butter“, „Premium“ und „Panorama“ kein „Must-have“ ist, wie die Modeleute so oft geschwollen und sogar ganz unironisch sagen. Aber sie zeigen doch, dass diese Stadt Möglichkeiten eröffnet, wie man sie früher kaum für denkbar gehalten hat. Oder, um es mit den Worten des teilnehmenden Beobachters Adrian Runhof von der Münchner Modemarke Talbot Runhof zu sagen: „Keine Weltklasse hier. Aber die Woche hat Spaß gemacht.“ Das kann man nicht einmal von jeder Pariser Modewoche behaupten.

Oder sollte der große Spaß am Ende nur Galgenhumor sein? Denn die schlechten Nachrichten reißen nicht ab: Die Marke Achtland ist nach London gezogen, die Marke Firma hört ganz auf, und das hoffnungsvolle Label Blame nimmt eine Pause vom Mode-Rhythmus.

Und dann meldet auch noch Karl-Heinz Müller, Gründer und Chef der „Bread & Butter“, dass er nach fünf Jahren in Berlin seine Messe zur Hälfte wieder an den ehemaligen Standort Barcelona umsiedelt: Immer im Januar, wenn in Berlin das Wetter garstig ist und die Hangars am Flughafen Tempelhof abgedichtet werden müssen, damit die Besucher nicht erfrieren, wird die wichtigste Streetwear-Messe der Welt in Barcelona stattfinden. Immer im Juli, wenn der Hangar-Vorplatz genutzt werden kann, findet die „Bread & Butter“ in Berlin statt. Für die Modewoche muss das wiederum nicht viel bedeuten. Denn das Streetwear- und das High-Fashion-Publikum unterscheiden sich, und es gibt sage und schreibe 15 weitere Messen. Die Chefin der weiter starken „Premium“, Anita Tillmann, erhofft sich von dem Halb-Weggang sogar neue Chancen.

Für die Öffentlichkeit und damit fürs Berlin-Marketing sind ohnehin die Designerschauen der „Mercedes-Benz Fashion Week“ wichtiger. Dass sie dieses Mal wegen der Fanmeile am Brandenburger Tor im Erika-Heß-Stadion im Wedding stattfanden (eine Chefredakteurin aus München nannte es schlicht „eine Katastrophe“), war nur ein Ausrutscher.

Und was die Mode angeht, ist die kreative Kraft, die von dieser Stadt ausgeht, weiterhin im Weltmaßstab zu sehen. Dafür steht eine ganze Generation von Modemachern zwischen 30 und 40 Jahren, die bei besserer Vermarktung und bei mehr Engagement des verschlafenen deutschen Einzelhandels geschäftlich erfolgreicher wäre: Michael Sontag, dessen Stoffe so weit geschnitten sind, dass sie zu Skulpturen werden; Vladimir Karaleev, der statt Drapierungen dieses Mal einen ausgefeilten Lagenlook bietet; Annelie Augustin und Odély Teboul (Augustin Teboul), die wieder ihre düster-romantische Ästhetik der Häkelspitze zelebrieren und dafür nun den europäischen Woolmark-Preis gewonnen haben; Dawid Tomaszewski, der sich gesteigert hat; Perret Schaad, die ihre tolle Farbpalette dieses Mal unter freiem Himmel zur Geltung bringen; Leyla Piedayesh (Lala Berlin) sowieso, die mit traumhafter Sicherheit den Ton trifft; nicht zu vergessen Männermodedesigner wie Ivan Mandzukic (Ivanman), Frida Homann (Dyn) oder Jennifer Brachmann (Brachmann), die den Herren einen neuen Twist geben.

Und die nächste Generation steht schon im „Vogue Salon“, der Nachwuchsveranstaltung der Modezeitschrift: zum Beispiel die aus Hamburg stammende Modemacherin Antje Pugnat, die ihre Strickmarke in Berlin aufbaut, und der Würzburger Tim Labenda, der den ersten Preis beim vom Berliner Senat organisierten Wettbewerb „Start Your Fashion Business“ gewann – jetzt muss er nur noch in Berlin Wurzeln schlagen, denn das Preisgeld von 22 000 Euro wird erst mit der passenden Adresse in der Stadt ausgezahlt. Den Preis „Designer for Tomorrow“ von Peek & Cloppenburg errang der Italiener Matteo Lamandini, der Anzüge im Schottenkaro mutig über Teile mit Prince-of-Wales-Check schichtet.

Vielleicht können sie alle noch von einem Modemacher lernen, der schon länger dabei ist und sich gerade neu erfindet. C&A-Spross Alexander Brenninkmeijer wird mit Clemens en August jetzt fast schon sesshaft. An seinem Tourkonzept von Stadt zu Stadt hält er fest, weil es gute Umsätze bringt. Zugleich will er das Geschäft verstetigen; einen Partner hat er in Stylebop-Chef Mario Eimuth gefunden, der den Verkauf ziemlich schnell ankurbelt: Gleich nach der Clemens-en-August-Schau sind die Kollektionsteile von Kamelhaarmänteln bis zu Strickpullovern in dem Online-Shop erhältlich. Brenninkmeijer meint: „Es sollte keine theatralische Präsentation sein, nach der man sagt: Super, ich kaufe mir das Parfum.“

Dieser neue Realismus tut gut, gerade in Berlin. Witzig, dass die Westdeutschen ihn herbeibringen, so wie Dorothee Schumacher, die für die Avantgarde nicht geschaffen ist und nicht zur Pariser Modewoche gehen muss, um sich gut zu fühlen. Sie setzt sich nun auch mit ihrem Vornamen namhaft in Szene – und macht aus „Schumacher“ kurzum „Dorothee Schumacher“. Bezeichnend, dass nun auch die Mode tougher wird, so wie die Chefin, die schon ein lackiertes Kleid mit ausgestelltem Rock in ihrer Lieblingsfarbe Nude aus der neuen Kollektion trägt.

Realismus? In Berlin? Ja, das ist der neue Trend in der Hauptstadt. Daniel Blechmann vom Männermode-Label Sopopular hat zum Beispiel kein Problem damit, für die Masse zu entwerfen – schließlich soll es sich verkaufen. Seit kurzem hat er einen Investor, der ihm den Rücken freihält. Und dann so ein Satz: „Wir legen den Fokus jetzt auf Verkäufe!“

Soll noch einer sagen, in Berlin werde nur Party gefeiert. Apropos: Natürlich wurde gefeiert, am schärfsten bei den anarchischen Bloggern von „Dandy Diary“, in der Autowerkstatt Klas in Kreuzberg, wo Autoschrauber und Modepüppchen im fahlen Schein gelbgrüner Unterbodenbeleuchtung zueinander finden. Der Durchlauferhitzer Berlin, er läuft weiter auf Hochtouren.

Alfons Kaiser, Jennifer Wiebking, Florian Siebeck

Die Tage der Berliner Modewoche im Überblick: Tag 1 / Tag 2 / Tag 3 / Tag 4

Realismus? In Berlin? Das ist der neue Trend in der Hauptstadt

Erschienen in Frankfurter Allgemeine Zeitung am 14. Juli 2014.



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