Ollivier und die Ausbeuter

Text FLORIAN SIEBECK, Fotos FRANK RÖTH

07.08.2017 · Alte Baustoffe für neue Häuser sind der Renner. Doch woher stammt das Material? In Frankreich kämpft ein Bürgermeister mit allen Mitteln gegen den Ausverkauf seiner Stadt.

D ie Adresse klingt vielversprechend: Rue des Royaux. Es ist ein brütend heißer Julitag in Joinville, einer Kleinstadt in der Champagne, aber hinter der Tür von Nummer 13, einem herrschaftlichen Wohnhaus aus längst vergangenen Zeiten, ist es angenehm kühl. „Und“, scherzt Bürgermeister Bertrand Ollivier, als die Tür aufgeht, „gefällt es Ihnen?“

Zugegeben: Das Haus ist geräumig. Doch der Boden hat keine Dielen mehr, die Kacheln aus der Küche wurden säuberlich abgetragen, ebenso die holzvertäfelten Wände. Es gibt keine Fenster, keine Türen, nicht mal Decken – von einem der ältesten Häuser am Platz mit einer Grundfläche von 1500 Quadratmetern ist nichts als ein Skelett geblieben. Seine einst drei Etagen lassen sich nur mit Mühe erahnen, wenn der Besucher vom Erdgeschoss hoch unters Dach schaut.

Selbst die Haustür haben sie mitgenommen: Händler, die alte Häuser ausschlachten und antike Einzelteile oder gleich ganze Böden und Decken an wohlhabende Kunden in aller Welt verkaufen. „Die meisten Stücke werden durch Belgien geschleust“, sagt Anthony Koenig. Bürgermeister Ollivier hat den Stadtplaner engagiert, um zu retten, was zu retten ist. „Die Baustoffe gehen nach Kalifornien, nach Israel, nach Russland.“ Nicht wenige bleiben auch in Frankreich, ziehen in den Süden des Landes um: An der Côte d’Azur verschönern Ausländer ihre Ferienhäuser mit Möbeln, die so kein anderer hat. Nach Angaben des französischen Kulturministeriums liegt der Marktwert dieser Exporte im zweistelligen Millionenbereich. Von Tausenden Exportlizenzen, die jedes Jahr beantragt werden, werden gerade einmal zehn abgelehnt, weil das Material von geschützten Denkmälern stammt.

Die einst drei Etagen lassen sich nur mit Mühe erahnen, wenn der Besucher vom Erdgeschoss hoch unters Dach schaut.
Detail eines Fensters im Haus Rue des Royaux 13
Die Substanz des Hauses ist im Innern zu großen Teilen zerstört.
Nun soll es zu einem Mietshaus mit sieben Wohnungen umgebaut werden.

Alles findet seine Abnehmer: von Türen, die für ein paar hundert Euro zu haben sind, über „Tomettes“, jene beliebten hexagonalen Terrakottafliese, aber auch patinierte Parkettböden und Holzarbeiten aus dem 18. Jahrhundert, die mehrere tausend Euro kosten, bis hin zu alten Kaminen, von denen ein Sims schon mal 10.000 Euro oder mehr einbringen kann. Die Händler schalten Annoncen in der Zeitung oder klopfen einfach an; was bleibt vor Ort, sind Schutt und Erde, bis jeder Schritt auf dem Boden knirscht. „Das ist Berlin 1945“, grollt Anthony Koenig. Er hat die Ruine an der Rue des Royaux mit mehreren Balken stützen lassen. „Wenn hier ein Haus zusammenfällt, kippen alle Nachbarhäuser um wie ein Kartenhaus.“ Die Nummer 13 ist nicht das einzige leere Haus in Joinville.

Die Gemeinde ist ein schmuckes Städtchen, aber in Teilen gleicht es einer Filmkulisse: Hinter der altehrwürdigen Fassade herrscht Leere. Der Ort an der Marne wurde von der französischen Tourismusindustrie als „Petite Cité de Caractère“ ausgezeichnet, als „kleine Stadt mit Charakter“. Darauf ist man hier sehr stolz, nicht viele Orte in Frankreich dürfen dieses Prädikat tragen.

Das Lustschloss Chateau de Grand Jardin in der französischen Kleinstadt Joinville
Leere Bistrostühle vor dem Lustschloss Chateau de Grand Jardin

In Joinville lässt sich aber auch die tragische Entwicklung, die viele dieser kleinen Städte durchmachen, besonders eindrücklich beobachten. Die Herren von Joinville gehörten im hohen Mittelalter zum führenden Adel der Champagne, die Stadt wuchs im 16. Jahrhundert zu höchster Blüte. Später, nach der Französischen Revolution, waren die Glanzzeiten zwar vorüber, es war aber nicht alles schlecht, zumindest war es nicht so verfahren wie heute. Noch bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts florierte die Wirtschaft, die Leute arbeiteten in Gießereien für Zulieferer der Auto-Industrie.

Dann aber ging es bergab, als die Aufträge wegbrachen und die Stadt in Lethargie versank. Die Arbeitslosenquote stieg auf 20 Prozent, die Bevölkerung schrumpfte innerhalb von 30 Jahren von 5000 auf gerade mal 3000 Einwohner. Die Häuserpreise kollabierten. Die reichen Leute haben die Stadt längst verlassen, ihre Häuser ließen sie zurück. In den neunziger Jahren wohnten in der Rue des Royaux längst keine Herrschaften mehr, sondern Schichtarbeiter aus den Gießereien. Ihre Wohnungen waren besonders schön, aber was nützt eine schöne Wohnung, wenn kein Geld zum Leben bleibt?

Das große Ausmisten hat schon nach dem Zweiten Weltkrieg angefangen, es war der einfachste Weg, an Geld zu kommen. Bertrand Ollivier hat gerade ein Schriftstück wiederentdeckt, geschrieben vom Rat der Stadt gleich nach Kriegsende. Darin klagt die Gemeindevertretung: „Was hier passiert, nämlich der Raubbau an unseren schönen Häusern, ist ein Verbrechen.“ Eine ganze Region ist zum Gemischtwarenlager geworden.

Gartenansicht des Hauses Rue du Temple 4. Das im Innern zu großen Teilen zerstörte Gebäude bietet die Stadt nun für einen Euro zum Kauf an.
Innenansicht des Hauses Rue du Temple 4
Das Haus muss vor dem Einsturz geschützt werden.

Gerade in Frankreich sind die Händler für alte Baustoffe besonders auf der Suche. In vielen Gemeinden gerade im Osten des Landes sind Spekulanten am Werk, die selbst das mitnehmen, was eigentlich niet- und nagelfest ist. Bewohner erzählen von Häusern, für 5000 Euro gekauft, für 140.000 verkauft – nicht das Haus, nur der Kamin. „Ich habe noch versucht, die Arbeiter aufzuhalten“, sagt ein Lehrer, der Zeuge wurde, wie sein Nachbarhaus auf diese Weise ausgeweidet wurde. „Ich rannte zum Rathaus, aber da war es zu spät. Es ist eine Schande.“

Sind die Bauarbeiter erst mal da, kann Bürgermeister Ollivier kaum etwas unternehmen. „Selbst wenn Sie die Leute zur Rede stellen, die das abtragen, kommen Sie nicht weiter. Das sind arme Arbeiter aus Osteuropa, die bringen das zum nächsten Wertstoffhof, und von da aus geht die Reise über mehrere Stationen weiter. Niemand kennt die Hintermänner“, sagt er. Es gibt keine rechtliche Handhabe, wenn das Haus verkauft ist. Oft ist das Ausschlachten vollkommen legal.

„Man muss davon ausgehen, dass der Hausbesitzer über sein Gut verfügt“, sagt Olaf Elias, der in Deutschland mit historischen Baustoffen handelt. „Wenn das Objekt nicht unter Denkmalschutz steht, entscheidet am Ende des Tages der Eigentümer, was mit einem Haus passiert.“ Dennoch steht er hinter dem Ansinnen von Bürgermeister Ollivier. „Wir haben 1992 den Unternehmensverband Historische Baustoffe gegründet, um für den Erhalt der Bausubstanz am Ort zu kämpfen“, sagt er. Aber auch zu retten, was zu retten ist – und sonst auf die Müllkippen wandern würde. Durch die materielle Aufwertung der historischen Materialien wachse auch eine „kulturelle Wertschätzung“, argumentiert er. Über den Umweg der Wertschöpfung – der unscheinbare Balken etwa ist nicht Brennholz, sondern Geld wert – steige bei einer viel breiteren Bevölkerungsschicht die Anerkennung für alte Handwerkstraditionen. „Weil sie verstehen, mit wie viel Kraft und Schweiß und Aufwand das damals hergestellt wurde.“

  • Blick vom Turm der Kirche Notre-Dame auf das Haus Rue du Temple 4
  • Plastikstühle vor einem alten Gebäude an der Marne
  • Sanierungsarbeiten an einem Gebäude in der französischen Kleinstadt Joinville
  • Verkaufsschild an einem Gebäude

Der Markt wird größer. Auch weniger wohlhabende Leute wollen heute ein „Zuckerstück für ihre Einrichtung“ haben, wie es Elias formuliert; etwas, an dem Patina und Geschichte haften. Die Händler verkaufen ihren Kunden eine Geschichte, die dann in deren Wohnung weiterlebt. Die Besitzer sind oft stolz, weil sie den alten Stücken neues Leben schenken. Sie sehen sich selbst als Hüter von Zeugnissen einer so gut wie in Vergessenheit geratenen Handwerkstechnik. Und ist es nicht ökologisch sinn- und verdienstvoll, gebrauchtes Material weiter zu verwenden? Bei so viel Begeisterung geraten die möglichen Schattenseiten schnell aus dem Blick. Besonders in Amerika sei der Run auf antike Baustoffe „wie eine Großwildjagd“, gesteht der Händler. Er hat zum Beispiel eine alte italienische Kassettendecke aus einem Berliner Stadthaus an Amerikaner verkauft, die sonst weggeschmissen worden wäre. Jetzt hängt sie in einer Villa in den Hamptons.

Nur ein Bruchteil der Objekte komme unter fragwürdigen Bedingungen auf den Markt, sagt Elias. Nicht wenige Baustoffe auf dem deutschen Markt etwa stammen aus Osteuropa von Häusern, die sich nicht halten lassen; oder es sind Relikte aus der DDR, um die sich niemand mehr schert. „In Europa rechnen wir mit 500 offiziellen und 1000 inoffiziellen Händlern, die wiederum an keinerlei Standards gebunden sind“, berichtet Elias. „Diebe gibt es überall – trotzdem raubt nicht gleich jeder nichtorganisierte Händler Kulturgüter aus.“ Das Internet habe die Märkte weitgehend transparent gemacht und halbseidenen Leuten das Handwerk erschwert.

In Frankreich gibt es eigentlich strikte Gesetze zum Schutz des kulturellen Erbes. Auf lokaler Ebene werden sie jedoch kaum angewandt. Zu groß ist die Angst der Politiker, bei Immobilienentwicklern und der Wirtschaft in Ungnade zu fallen. „40 Jahre lang hat die Stadt ihre Probleme ignoriert – sie hatte nur die Industrie im Sinn“, klagt Stadtplaner Koenig.

Bürgermeister Bertrand Ollivier (2. von rechts) und seine Mitstreiter. Die Stadt Joinville kämpft für den Erhalt alter Häuser und ihrer Sanierung, und versucht, ihren Verkauf als Baustofflieferanten für neue Häuser zu verhindern.

Bertrand Ollivier aber hat eine Agenda. „Als ich Bürgermeister wurde, sagte man mir: Bertrand, mach die Straßen besser. Da sagte ich: Wenn die Häuser leer stehen, bringen mir die Straßen auch nichts mehr.“ Als er 2006 antrat, war der Ausverkauf der Stadt in vollem Gange. Es dauerte, bis er zur Tat schreiten konnte. Ollivier sicherte Subventionen, ließ sich rechtlich beraten. Mittlerweile 50 Jahre alt, hat er ein junges Team um sich geschart. Zu seinen Mitstreitern gehören neben dem 33 Jahre alten, energiegeladenen Koenig auch Martin Gricourt, 24, ein Mann für den Einzelhandel, und Noémie Faux, 23, die eine Datenbank alter Häuser und ihres Inventars für die Stadt erarbeitet. Zusammen wollen sie Wirtschaft und Tourismus ankurbeln.

Die Stadt macht sich zudem ein selten in Anspruch genommenes Gesetz zunutze, das dem Bürgermeister das Recht gibt, einzuschreiten, wenn durch geplante Maßnahmen ein Haus zu baufällig wird, dass es kaum erhalten werden kann. Ollivier wundert sich, dass das nicht mehr Bürgermeister machen. Stadtplaner Koenig hatte es schon vielen Gemeinden vorgeschlagen. Bisher ohne Erfolg. Zu aufwendig, zu teuer, zu risikoreich und „was geht uns das Eigentum fremder Leute an?“, lauten die Gründe, mit denen die Kommunen seinen Rat ablehnen.

Auch in Joinville war es zunächst schwer. 2012/13, als sie angefangen haben, sich das kulturelle Erbe der Stadt zurückzuholen, waren die Einwohner wenig kooperativ. „Erst später verstanden sie, dass wir die Lebensqualität im ganzen Ort stärken wollen. Ein Haus, das leer steht, zieht die ganze Nachbarschaft in den Abgrund“, erzählt Ollivier. Das Gesetz, das der Bürgermeister seit 2012 schon fünfmal als Trumpf genutzt hat, gibt der Stadt auch ein Vorkaufsrecht auf entsprechende Immobilien. „Aber das ist wirklich die Ultima Ratio.“

Jounville an der Marne ist abgehängt von den Ballungszentren.

Vierzig Häuser sind es aktuell, die die Stadt im Auge hat. Entweder weil sie keinen Eigentümer mehr haben, oder weil sie bewusst dem Verfall preisgegeben wurden. Sollte sich keine andere Lösung finden, übernimmt am Ende die Kommune die Immobilie. Doch dass die Käufer in Scharen kommen werden, bleibt unwahrscheinlich. „Die Mobilität der Menschen hat sich verändert. Die kulturelle Beharrlichkeit, die der Bürgermeister sich hier wünscht, entspricht nicht mehr der Realität“, urteilt Baustoffhändler Elias. Durch die verlorene Nutzung der Objekte sei ihre Bedeutung obsolet geworden. „Jetzt muss man den Dingen einen neuen Sinn geben.“

Ob das genügt, um kaufkräftige Kunden nach Joinville zu bringen? Von Paris aus sind es immerhin dreieinhalb Stunden mit dem Auto oder der Bahn. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht, Arbeit rar. Aber Ollivier und seine Leute setzen auf mehr Touristen in den kommenden Jahren. Auf neue Gasthäuser in alten Gemäuern. „Wenn er es schafft, dort Leute anzusiedeln, die sich verpflichten, das Baugut zu restaurieren, kann man da nur in die Hände klatschen“, sagt Elias.

Exemplarisch wird das am Fall eines ganz besonderen Hauses. Der Vorgarten ist umrandet von zwei wuchtigen Gebäudeflügeln, es wachsen Weinreben, Hortensien, ein Birnbaum. Das Haus, im 17. Jahrhundert gebaut und später erweitert, hat den anmutigen Charme eines Adelspalastes. Integrierte Spiegel in den Wänden, Gemälde über den Flügeltüren, ein Kaminsims aus Marmor. Andere Teile der Einrichtung hat der Eigentümer schon verkauft, das Anwesen wollte er für 180.000 Euro loswerden. „Jetzt raten Sie mal, was wir dafür gezahlt haben“, fordert der Bürgermeister die Gäste auf. „30.000 Euro.“ Für diesen Preis war der Eigentümer am Ende bereit, die Immobilie an einen dubiosen Käufer zu verschachern – bis Ollivier intervenierte.

„Wir holen uns vor jedem Verkauf Informationen über den Interessenten ein. Fragen ihn: Was wollen Sie mit dem Haus machen?“ Je mehr Geld jemand biete, umso hehrer seien oft seine Absichten. „Wer interessant ist, kriegt ein Haus aber auch für einen Euro“, sagt Ollivier. Nur das Geld zur Sanierung muss eben vorhanden sein. Die Stadt hat schon einmal angefangen, den Altbau wieder herzurichten – ein Käufer aus Paris steht kurz vor Vertragsunterzeichnung. Er hat dem Bürgermeister schriftlich zugesichert, das Haus wieder in Schuss zu bringen. Bei den Sanierungskosten wird ihn die Stadt unterstützen.

Innenansicht des Hauses Rue des Royaux 18. Das Haus wurde von der Stadt übernommen, ist in relativ gutem Zustand und steht für 40.000 bis 50.000 Euro zum Verkauf.

So läuft es im Idealfall. In der Realität hängt an vielen Türen der Stadt ein Schild, „zu verkaufen“, und an manchen hängt ein Aushang des Bürgermeisters – mit der Drohung, das Haus zu enteignen. Ein Bau aus dem 17. Jahrhundert ganz in der Nähe ist als Nächstes dran. „Der Eigentümer sagt, unser Preisvorschlag sei zu niedrig, lässt sein Haus aber verfallen“, schimpft Ollivier und zuckt mit den Schultern. „Den klagen wir da schon auch noch raus.“ Der Gerichtstermin steht.

Ganzen Ortschaften werde ihre Geschichte genommen, kritisiert der Bürgermeister. Für ihn sind die Häuser in Joinville steinerne Zeugen des Ortes, die vom Aufstieg und Fall einer ganzen Region erzählen. In nur wenigen Jahren seien Jahrhunderte dieser Geschichte ausradiert worden. Allein in Joinville stehen 80 von 400 Häusern vor dem Verfall. Doch der umtriebige Rathauschef gibt so schnell nicht auf. „Wir haben das Problem weitgehend in den Griff bekommen“, sagt er trotzig.

Das Haus in der Rue des Royaux, vor zwei Jahren gekauft, bekommt nicht nur eine neue Fassade, sondern wird auch innen neu aufgeteilt. Sieben Mietwohnungen werden hier entstehen. Ende 2019 wird der mehr als 1,5 Millionen teure Umbau fertig sein. Das Ziel ist klar: Die Stadt soll wieder lebendig werden. Und das Beste an der Sache ist die Dynamik, ist sich der Bürgermeister sicher: „Wenn einer sein Haus renoviert, lässt der Nachbar das nicht lang ungeschehen.“