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Je wahnsinniger, desto besser

Von FLORIAN SIEBECK

11.03.2017 · Mit Sojasauce, mit Ginger Ale, mit Baked Potato: In keinem Land der Welt werden so viele „Kit Kat“-Sorten verkauft wie in Japan. Woran liegt das?

Das Geschäft von Patissier Yasumasa Takagi liegt in einem Hinterhof im noblen Tokioter Stadtteil Aoyama, da, wo die Luxusmarken sich ihre Paläste haben bauen lassen, einer schöner als der andere, Prachtbauten von Sanaa, Renzo Piano, Herzog & de Meuron. Die Patisserie von Herrn Takagi hebt sich architektonisch nicht so sehr ab. Muss sie aber auch gar nicht. Herr Takagi verkauft „Kit Kat“.

Seine „Sublime“-Reihe ist in Japan sehr beliebt: „Kit Kat“ mit richtig edler Schokolade, einzeln verpackt. Schon der erste Bissen ist ein kulinarisches Erlebnis und wirft die Frage auf: Was haben wir da nur gegessen, all die Jahre, den Fraß aus dem Süßigkeitenautomaten, wenn ein „Kit Kat“-Riegel doch so rund schmecken kann, wenn er denn will, so intensiv?

© Takagi Yasumasa Takagi

Patissier Takagi hat, wie er sagt, in Frankreich und Belgien gelernt, hat sich den guten Geschmack europäischer Konditorskunst (Schokolade! Früchte! Nüsse! Mehl! Milch!) angeeignet. Jetzt will er diesen Geschmack nach Japan bringen. Hier, in seiner Heimat, erfindet er neue „Kit Kat“-Sorten, stets mit alteuropäischer Kunstfertigkeit. Jüngst hat er ein „Kit Kat“ mit Mendiant-Topping kreiert, eine Leckerei aus dem Elsass mit Nüssen und Früchten. Preis je Finger: 4,40 Euro.

Seit zwölf Jahren arbeitet Yasumasa Takagi jetzt für den Hersteller Nestlé, um die Brücke zwischen Japan und Europa zu schlagen. Wie er da zwischen Pistazienpaste, Erdbeerpulver und Yuzu-Extrakt steht, umgibt ihn eine fast meditative Aura. „Am Anfang war ich skeptisch“, sagt er, „ob sich Qualität in diesem großen industriellen Maßstab überhaupt halten kann.“ Er lehnte ab. Nestlé machte Zugeständnisse, man einigte sich auf hohe Standards, Takagi würde das Premiumsegment der Marke abbilden. Die erste „Kit Kat“-Sorte, die 2005 unter der Zusammenarbeit entstand, war Passionsfrucht; später kam die „Sublime“-Reihe mit höherem Kakaobutter-Anteil, die anfangs von Hand gefertigt wurde und mittlerweile maschinell, zu groß ist die Nachfrage. In Japan, das ist kein Scherz, gilt „Kit Kat“ als ein edles Produkt.

Chef Takagi verkauft seine Würfe nicht nur im eigenen Geschäft, acht Läden gibt es mittlerweile in Japan, in den Feinkostabteilungen der großen Department-Stores. Da gibt es die „Tee-Kollektion“, die „Früchte-Kollektion“ und besagte „Sublime“-Reihe. „Kit Kat“-Kekse, „Kit Kat“ mit Buttergeschmack, im Dezember 2015 kam „Kit Kat Gold“: mit Blattgold ummantelte Einzelfinger aus Zartbitterschokolade, 11 Euro das Stück, gleich ausverkauft.

© Hersteller Der mit Blattgold ummantelte Kit-Kat-Finger kostet elf Euro.

Für Nestlé ist „Kit Kat“ eine seiner 29 „Milliardenmarken“, die mehr als eine Milliarde Schweizer Franken pro Jahr umsetzt. Das Unternehmen sagt, weltweit würden im Schnitt sekündlich mehr als 700 Finger verzehrt. Vor 81 Jahren wurde „Kit Kat“ vom britischen Hersteller Rowntree (der später von Nestlé übernommen wurde) erfunden. Der Name kommt wahrscheinlich vom gleichnamigen Polit-Klub in London, dessen Mitglieder sich für ein stärkeres Parlament einsetzten und die Monarchie in ihre Schranken wiesen. Benannt wiederum angeblich nach Christopher „Kit“ Cat, dessen gemeinhin „Kit-Cats“ genannten Hammelpasteten über die Stadtgrenzen hinaus äußerst beliebt waren.

In England – die Briten essen mehr Schokolade als Mitglieder jeder anderen europäischen Nation – war „Kit Kat“ lange Zeit Süßigkeit Nummer eins. Zu Kriegszeiten unter Winston Churchill angeblich als „healthy cheap food“ angepriesen, hielt es sich jahrzehntelang an der Spitze.

Doch seit dem Millennium wird „Kit Kat“ immer unbeliebter, die Marktforscher sagen, dass es den Kunden langweilig mit der Marke wird. Heute reicht es nur noch für Platz fünf, nach Angaben des Marktforschers IRI sanken die Verkaufszahlen allein von 2014 auf 2015 um 6,9 Prozent.

Gegen die gut 280 Millionen Euro, die Nestlé nach eigenen Angaben mit „Kit Kat“ im Vereinigten Königreich heute umsetzt, nehmen sich die 150 Millionen in Japan noch bescheiden aus, aber der Markt wächst. Dort kam „Kit Kat“ 1973 auf den Markt, seither wächst der Absatz stetig. Seit 2012 ist „Kit Kat“ in Japan die meistverkaufte Schokolade – mit einem Marktanteil von nur fünf Prozent. Nestlé ist im Vergleich zum Marktführer Meiji nur ein kleiner Player, aber „Kit Kat“ kennt jeder. Acht Millionen Mini-Finger verkauft Nestlé in Japan pro Tag. Dass „Kit Kat“ aus England kommt, wissen die meisten Japaner gar nicht. Der hochfragmentierte Markt für Schokolade ist aggressiv; das Problem ist nicht, Platz auf dem Regal zu bekommen – sondern ihn zu halten. Wer da überleben will, muss sich ständig neu erfinden.

© Hersteller Unzählige Sorten: Wer im hochfragmentierten Markt für Schokolade überleben will, muss sich ständig neu erfinden.

2000 kamen deshalb immer mehr Sondereditionen auf den Markt. Zuerst Erdbeere, dann, zwei Jahre später, eine regionale Spezialität aus Hokkaido: Yubari-Melone. Irgendwann wurde es immer verrückter: Sojasauce, Ginger Ale, Baked Potato, europäische Käseplatte, Weintraube, Steinsalz, Gemüsesaft, Adzuki-Bohne, Misosuppe. Wer kauft so etwas?

„Die japanischen Kunden sind sehr fordernd, nicht nur, was den Geschmack betrifft. Auch die Aufmachung muss stimmen“, sagt Atsushi Morisawa vom Konkurrenten Mars Japan. Je wahnsinniger, desto besser: Seit kurzem gibt es eine Sorte, die man im Ofen backen kann. Anfang Februar verschenkte Nestlé eine Sonderedition, die optisch verschiedenen Sushi-Nigiri nachempfunden war: Thunfisch, Seeigel und Ei. Geschmacklich wurde dabei auf Puffreis mit Himbeere, Mascarpone-Melone und Kürbispudding zurückgegriffen.

© Hersteller Puffreis mit Himbeere, Mascarpone-Melone und Kürbispudding ergeben eine Sushi-Optik.

Manchmal rollten sie bei der Abnahme in der Nestlé-Zentrale im schweizerischen Vevey mit den Augen, „aber sie respektieren unsere kulturellen Unterschiede“, sagt Ryoji Maki, der bei Nestlé Japan für die Süßwarensparte zuständig ist. Seine liebste Sorte ist „Kit Kat“ Otona-No-Amasa, die bitterer schmeckt als das Original. Otona-No-Amasa heißt so viel wie „Süße für Erwachsene“. Teil dieser Reihe ist auch eine Grüntee-Variante, heute das beliebteste Mitbringsel Nestlés in Japan.

Pro Jahr kommen gut 20 neue Geschmacksrichtungen hinzu. Aktuell gibt es 30 Sorten, darunter 15 regionale, zum Beispiel Sake (mit 0,8 Prozent Alkohol) oder Hokkaido-Melone mit Mascarpone. Natürlich funktioniert nicht alles. Schwarze Johannisbeere etwa – zu säurehaltig, um das wilde Aroma einzufangen. Oder Wassermelone. „Passt nicht“, sagt Takagi. „Schmeckt wie Kartoffel.“ Die Regionalsorten entstehen heute in einem zehnköpfigen Team in Kobe teilweise ohne Chef Takaki, der mit seinen edlen „Kit Kat“ genug um die Ohren hat.

© Hersteller Schokolade mit Tee- oder Wasabi-Geschmack: Wer den Erfolg davon verstehen will, muss Omiyage verstehen.

Seit die „Kit Kat“-Konditoreien vor drei Jahren eingeführt wurden, erwirtschafteten sie rund 17 Millionen Euro, mehr als eine Million Kunden kamen. „Es ist wirklich hochwertige Schokolade“, sagt die 37 Jahre alte Yuko Shimohira, die ihr fröhliches Lächeln nicht verloren hat, obwohl sie im Seibu Department Store in Ikebukuro, Tokio, gerade 150 Euro für „Kit Kat“ ausgegeben hat. Für sich? „Nein, Omiyage!“

Wer den Erfolg von „Kit Kat“ verstehen will, muss Omiyage verstehen: Jede Region in Japan hat kulinarische Spezialitäten, und es ist mehr Pflicht denn Kür, nach einer Reise – unabhängig ob Privatvergnügen oder Business-Trip – etwas Leckeres mit nach Hause mitzubringen. Schokolade wird da gern genommen, weil sie recht neu in Japan ist und als sehr hochwertig gilt. Über die Jahre kamen so 300 „Kit Kat“-Sorten zusammen, die häufig auf lokalen Spezialitäten aufbauen. Oft waren es limitierte Editionen, die nur an Bahnhöfen und Flughäfen, nicht in den kleinen Konbini-Kiosken zu kaufen waren. Die große Variation kommt nicht zuletzt daher, dass Japan, diese langgezogene, dünne Insel, so viele Klimazonen durchläuft.

Nach Angaben von Nestlé geht es auch nicht wirklich darum, was schmecken könnte – sondern hauptsächlich, wie viel Überraschungseffekt in neuen Sorten steckt, die als Mitbringsel auch Gesprächsthema werden sollen. „,Kit Kat‘ ist in Japan längst mehr als eine Schokoladensorte“, sagt Manager Ryoji Maki. Der Riegel sei ein Teil der kulturellen Identität. „Als Marke steht ,Kit Kat‘ auch für Erfolg und dafür, Anschub zu geben, um auf das nächste Level zu kommen, beruflich wie privat.“

Das mag obskur klingen. Doch im Jahr 2000 – Nestlé war gerade dabei, die Marke neu auszurichten – ging der Hersteller einem Phänomen nach, das in der Region Kyushu schon viele Jahre zuvor beobachtet worden war: Recht zuverlässig stiegen im Januar die Verkaufszahlen. Nestlé fand heraus, dass die Riegel Einzug ins Belohnungssystem der Leistungsgesellschaft dieses dichtbevölkerten Landes gefunden hatten: Die Schokoriegel werden als Glücksbringer verschenkt, immer vor den großen Reifeprüfungen für die Universitäten, die jährlich 600.000 Anwärter anziehen. Das ist, zusammen mit Omiyage, auch der Grund, warum „Kit Kat“ – wie einige andere japanische Süßigkeiten – auf der Verpackung Platz für eine Grußbotschaft lassen. Selbst in Postfilialen gibt es „Kit Kat“ seit 2009 zu kaufen, schon fertig frankiert. Das wahre Erfolgsgeheimnis des Riegels aber liegt wahrscheinlich versteckt in einer für Nestlé glücklichen Fügung mit der japanischen Sprache. „Kitto Katto“ oder „Kitto Katsu“, je nach Dialekt, heißt grob übersetzt: Auf jeden Fall gewinnen.

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