Valendas stirbt doch nicht

Das Bündner Bauerndorf Valendas stand stets im Schatten seiner Nachbarn Flims und Laax. Gut so: Es ist vom Tourismus verschont geblieben. Nun öffnet sich das prächtigste Haus am Platz für Gäste.
Gordian Blumenthal. Ramun Capaul Reise Schewiz Türalihus
Zuletzt wohnte im Türalihus ein Ziegenhirte mit seinen Tieren, dann stand das Gebäude 70 Jahre lang leer.Alessandra Ianniello / Living Inside

Es ist noch nicht allzu lang her, da dachten viele Menschen in Valendas: Ihr Dorf stirbt. Auf der anderen Seite des Tals brachte die Wintersonne die Skipisten von Flims und Laax zum Strahlen, Valendas aber ließ sie im Schatten liegen. Wie viele Schweizer Gemeinden litt das Bergdorf unter Landflucht; die Häuser lagen verlassen da, und der Ortskern verödete. Kaum jemand traf sich noch am Dorfplatz, den alle nur „bim Brunna“ nennen, wegen des großen Holzbrunnens, dessen Stock seit seiner Errichtung 1760 eine doppelschwänzige Meerjungfrau mit Florentiner Hut krönt. Warum sie da sitzt, weiß niemand so genau. Vielleicht, weil man in Valendas schon immer ein Auge für das Schöne hatte.

Die Architekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul gaben dem herrschaftlichen Haus in knapp siebenjähriger Arbeit seine Würde zurück.

Alessandra Ianniello / Living Inside

Ramun Capaul

Etwas zurückgesetzt vom Dorfplatz steht das Türalihus, das stattlichste Gebäude am Ort, und kündet von besseren Zeiten. Das herrschaftliche Wohnhaus wurde 1485 erbaut, es hat Glaubens- und Bauernkriege überstanden und die Pest, die 1594 beinahe das ganze Dorf dahinraffte. Am Ende wäre es fast vom Zahn der Zeit zernagt worden – hätten sich die Bewohner von Valendas nicht entschlossen, das nicht zuzulassen.
„Wir hatten gemerkt, dass im Dorf nichts mehr geht“, sagt der frühere Gemeindepräsident Benedikt Bühler. „Und was macht man, wenn man nicht weiterweiß? Man gründet einen Verein.“ Die Initiative „Valendas Impuls“ gab eine Machbarkeitsstudie in Auftrag und holte die damals noch junge Stiftung „Ferien im Baudenkmal“ des Schweizer Heimatschutzes ins Boot. Nach Vorbild des englischen „Landmark Trust“ will sie bedrohte Baudenkmäler vor dem Zerfall retten und aus „altem Ghütt“ ansehnliche Ferienwohnungen machen.

Kochen wie vor 500 Jahren: Die Wände der Küchen tragen den Ruß der Jahrhunderte; auch eine offene Feuerstelle kann genutzt werden.

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Doch das Türalihus sah traurig aus, ein Schandfleck, 70 Jahre stand es zuletzt leer. Das Büro Capaul & Blumenthal Architects aus dem benachbarten Ilanz soll das Haus renovieren, oder wie Ramun Capaul sagt: „Uns wurde anvertraut, das alte Haus wiederzubeleben.“ Capaul und sein Kompagnon Gordian Blumenthal kommen schnell zur Einsicht, dass jede Sanierung mit großen Verlusten verbunden wäre: Auf der Fassade waren unter altem Besenputz immer mehr Fragmente älterer Schichten zum Vorschein gekommen. Die Architekten hatten anfänglich vorgeschlagen, sich auf die letzte wichtige Bauphase von 1775 zu konzentrieren. Über fünf Etappen war das Haus aus dem 15. Jahrhundert sukzessive um Anbauten erweitert worden, der Treppenturm, der ihm seinen Namen gibt (Türalihus heißt „Türmchenhaus“), wurde in der letzten Etappe angebaut, als das Türalihus um eine Etage aufgestockt wurde und die Fassade vorgeritzte Ecklisenen bekam. „Uns gefiel die große Zeitspanne, die am Gebäude ablesbar ist“, sagt Capaul.

Die frei stehende Vintage-Badewanne im getäfelten Badezimmer bringt frischen Wind in das alte Türalihus.

Florian Siebeck

Doch wie restauriert, repariert man ein Haus, ohne die zeitliche Dimension des jahrhundertealten Bauwerks zu verlieren? Mit Mut zum Fragmentarischen, den man für gewöhnlich nur von der Restauration von Reliquien kennt: Alle Spuren, die größer als eine Fünf-Franken-Münze waren, wurden erhalten, die weiße Löschkalkfassade nach alter Handwerkstradition aufgeputzt. Auch innen blieben die von der Geschichte gezeichneten Holzvertäfelungen und Mauern fast unberührt, behielten die Architekten die ausgetretenen Steinstufen bei. Im Alkoven reparierten sie etwa die Holztäfelung und kaschierten die Stellen nicht, sondern zeigen sie. „Eine Haltung zugunsten des Originals, die auch das handwerkliche Können des Schreiners zeigt“, meint Capaul. Allfällige Eingriffe in die Bausubstanz beschränkten sich auf ein Minimum, die für einen komfortablen Aufenthalt notwendig gewordenen Einbauten in Küche und Bad grenzen sich durch ihre zeitgenössische Formensprache ab. Auch die schlichten Möbelklassiker der großen Schweizer Designer fügen sich so selbstverständlich in die mit fein geschreinerten Holzprofilen getäfelte Stube ein, als hätten sie Max Bill, Ernst Ambühler, Werner Max Moser und Andreas Christen eigens für diesen Ort entworfen.

Die Gäste schlafen heute in den früheren Lagerräumen des Hauses.

Alessandra Ianniello / Living Inside

Die alte, neue kunstvoll getäfelte Stube im Türalihus.

Alessandra Ianniello / Living Inside

Hie und da erinnern noch ganz konkrete Relikte an die früheren Besitzer; die Wand des Esszimmers ziert etwa das Allianzwappen der großbürgerlichen Familien „von Marchion – von Arms“. Die Marchions waren eine angesehene Ämter- und Offiziersfamilie, die durch Landwirtschaft, Passhandel und Solddienste zu Reichtum kam. Valendas lag an einer wichtigen Handelsstraße von Zürich nach Mailand, denn hier ließen sich die Zollstationen des Bischofs umgehen. Im Türalihus wurde Ware eingelagert, während nebenan die Pferde gestallt wurden, erzählt Benedikt Bühler. Der Treppenturm diente nur Repräsentationszwecken. „Die Marchions waren als politische Vertreter des Kantons auch in Italien zu Geld gekommen, weshalb Valendas zuweilen sehr italienisch wirkt.“ Einige Häuser im Ort wirken tatsächlich wie Palazzi, mit herrschaftlichen Toren zur Straße hin. „Man hat damals gestritten, wo die Straße entlangführt, deshalb macht sie viele Bögen durchs Dorf.“ Wer etwas auf sich hielt, wollte schließlich trockenen Fußes von der Kutsche ins Haus kommen. Als sich die Handelsrouten bald änderten und 1908 schließlich die Eisenbahn kam, zogen die Reichen weg. Zurück blieben die Bauern, das Dorf verarmte. „Doch überhastete Sanierungen durch fehlenden touristischen Druck blieben aus, wodurch viele alte Häuser in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten wurden“, sagt Ramun Capaul. Dank des Engagements der Bewohner sind heute alle Häuser fertig renoviert und bewohnbar gemacht. Es gibt jetzt ein „Gasthaus am Brunnen“ mit ganz hervorragender Küche, und plötzlich interessieren sich auch die Nachbarn in Laax und Flims, die ihrerseits viele alte Häuser und Bauernhöfe verloren haben, für Valendas.

Ramun Capaul

Es ist ein wundersam intaktes Dorf, in dem sich kein Bauer dem Tourismus unterordnen muss, mit prächtigen Patrizierhäusern, Bauernhäusern, kunstvoll verzierten Stallungen. Die Brunnenplätze sind keinen Parkplätzen gewichen, und es gibt ein altes „Backhüsli“, das nicht wie die meisten anderen als Garage dient, sondern wo die Dorfbewohner einmal im Monat den Ofen einfeuern. Valendas ist idealer Ausgangspunkt für Wanderungen zur Rheinschlucht, deren Felswände sich jeden Tag in einem anderen Licht zeigen; zum Skigebiet Laax sind es 20 Minuten, Peter Zumthors Therme Vals liegt gleich vor der Haustür, auch Valerio Olgiatis Gelbes Haus in Flims. Oder man bleibt einfach in der barocken Stube sitzen, die Decke weit nach oben gezogen, und hört das Feuer im wuchtigen Turmofen knistern. Entkoppelt von der Welt da draußen, denn WLAN gibt es nicht; das Telefon hat den Kampf gegen die dicken Mauern aufgegeben. So tief in der Geschichte und doch ganz in der Gegenwart. Es ist ein Segen.

Zuletzt wohnte im Türalihus ein Ziegenhirte mit seinen Tieren, dann stand das Gebäude 70 Jahre lang leer.

Alessandra Ianniello / Living Inside
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Nicht weit von Lillehammer duckt sich eine dunkle Gestalt ins Dickicht. Kein Troll, kein Berggeist, aber eine beinahe ebenso mythische Begegnung – und ein Ort für das Ritual des Lebens.