Die Zukunft, die niemals war

Fliegende Autos, Hungerkriege und Kindergärten
auf dem Mond – in seinem Blog Paloeofuture sammelt der 27-jährige Matt Novac Fundstücke über die Zukunft von gestern und ist damit unfreiwillig zum Experten des Retro-Futurismus avanciert

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte einst: “Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen”. Was reizt die Menschen an der ungewissen Zukunft?
Das Interessante an der Zukunft ist, dass niemand sie voraussagen kann, wäre ja sonst auch recht langweilig hier. Und weil niemand die Zukunft voraussagen kann, kann jeder ein Experte sein. Das ist wie im Sport. Jeder kann aus seiner Perspektive sagen, was wohl passieren wird. Später belächeln wir dann oft die Ideen der Menschen. Aber die sind ja nicht dumm; sie können ja nicht zurückblicken. Wir, die wir in der Zukunft der Menschen in der Vergangenheit leben, denken uns: Die hatten ja keine Ahnung, dass wir heute iPhones haben und ganz neue technische Möglichkeiten. Für die Menschen von morgen sind wir die Idioten.
Und in jeder Generation ist es gleich: Wir denken, dass wir einen unglaublichen Wandel durchlebt haben, selbst wenn der retrospektiv lächerlich wirken mag. Und dann stellen wir uns die Zukunft vor und denken, dass wir eine ganz besondere Generation waren. Wir sind nur leider genauso besonders wie jede andere Generation vor uns. Da ist es egal, wie man über die Zukunft denkt: Ob man nun glaubt, dass wir von einer Flut biblischen Ausmaßes dahingerafft werden, in einer Dystopie voller Nahrungsknappheit und Überbevölkerung oder Autos von Sonnenschein und Lollipops angetrieben werden, alle mit Jetpacks rumfliegen und Roboter die Arbeit erledigen.
All diese Entwürfe basieren auf der Annahme, dass die aktuelle Zeit eine ganz besondere ist. Wie sähe das denn aus, wenn wir nur die Generation sind, die ein schöneres Handy hervorgebracht hat?

Welche Prognosen unseres möglichen heutigen Leben gefallen dir am besten?
Die Visionen der großen Telekommunikationskonzerne aus den 90er Jahren. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in dieser Zeit aufgewachsen bin und mich daran noch erinnern kann. Wo es um größeres Fernsehen oder Videotelefonie ging. Es ist interessant zu sehen, was wir heute haben und wie es sich unterscheidet von dem, was wir damals noch angenommen hatten. Wie wir in so kurzer Zeit solche Fortschritte gemacht haben.
Es gibt ein Video des amerikanischen Kommunikationsriesen AT&T, da steigt eine Frau aus dem Flugzeug, aber statt mit dem Handy zu telefonieren, geht sie zu einer Videotelefonzelle und ruft ihren Verlobten in Belgien an. Ich bin erstaunt, wenn ich heute noch eine Telefonzelle sehe.
Abgesehen davon interessiert mich die Zeit vor den 20er Jahren. Wann immer ich kann, schaue ich Mikrofilm durch aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Zu solchen Zeiten machen Menschen besonders gern Prognosen über die Welt in hundert Jahren. Da gab es dieses großartige Bild vom “20th Century Boy”, der mit seinem Jetpack fliegt und ein Kind auf dem Fahrrad vom Boden aus staunend zuschaut. Der Junge des 20. Jahrhunderts würde also sein eigenes Fluggerät haben; für 1900 war das eine ziemlich fortschrittliche Vision.

Warum, glaubst du, spielt das Fliegen eine so große Rolle in der Vorstellung der Zukunft?
Ich glaube, das wurde als nächster Schritt in der Evolution des Transportwesens gesehen. Die Vernetzung der USA durch die Eisenbahnen hat dieses große Land zusammengebracht. Und als all die Bahnstrecken in Betrieb genommen waren, da stand die Frage im Raum: “Wohin jetzt?”; und die natürliche Erweiterung war der Luftraum. Von der industriellen Revolution an ging es um dieses Mantra “größer, schneller, besser”. Und das ist bis heute so. Jedes Jahr gibt es neue Berichte über die “fliegenden Autos der Zukunft”; ich habe mir da Google Alerts eingerichtet.
Nächstes Jahr habe ich ein fliegendes Auto in der Garage, bestimmt. Aber ganz ehrlich, es ist einfach unpraktisch: aus verkehrstechnischen Gründen, aus finanziellen Gründen, aus umwelttechnischen Gründen. Wir könnten mit Flugzeugen schon längst in 45 Minuten von New York nach San Francisco fliegen. Wir machen es aber nicht. Es lohnt sich einfach nicht. Ab und zu kommen Leute auf meine Seite, die die 50er oder 60er miterlebt haben und die Verheißungen von Jetpacks und fliegenden Autos noch vor Augen sehen. Die fragen sich verbittert: “Wann kommt mein fliegendes Auto denn endlich?”

Gerade aus dieser Zeit hast du besonders viel Material auf deinem Blog. Warum?
Ich denke das liegt in erster Linie daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein großer Optimismus herrschte. Alle Menschen brauchten Kühlschränke und neue Konsumgüter. Viele Anzeigen aus dieser Zeit verkauften den Menschen eine bessere Zukunft. Außerdem kamen seinerzeit die Massenmedien auf, mit bunten Bildern; darauf ist das Internet ja auch ausgelegt. Die Fundstücke aus den 50ern und 60ern haben einfach den größten Unterhaltungswert.

Wie wird denn die Zukunft aussehen?
Wenn ich etwas bei der Recherche für diesen Blog gelernt habe, dann ist es, keine Voraussagen zu treffen. Alle Prognosen basieren immer auf einer Unzufriedenheit mit dem Status quo. Und das wird immer so sein. Die Welt wird immer unperfekt sein, aber gerade das macht mich zu einer, wenngleich vorsichtigen, optimistischen Person.
Es gibt immer Menschen, die mit der Welt unzufrieden sind und sie verbessern wollen. Es ist ein fortwährender Kreislauf: Neue Dinge werden erprobt und entwickelt, und dann sucht man nach dem Sinn dahinter. Die Menschheit zeigt sich immer wieder, was sie Neues entwickeln kann. Dann staunen erstmal alle, und wenn man über diesen Punkt hinaus ist, kann man sich fragen, wozu das eigentlich gut ist was es da Neues gibt.

Keine fliegenden Autos?
Niemand will es wahr haben, aber die Zukunft wird grundsätzlich genauso sein wie heute, mit kleinen Anpassungen hie und da. Aber das ist ja langweilig. Die Menschen wollen lieber Zerstörung oder einen Atomkrieg sehen. Weil sie wollen, dass ihre Generation ganz besonders ist. Sie wollen lieber verbrannte Erde sehen.

Eine zugegebenermaßen ziemlich düstere Vorstellung.
Man kann die Menschen nach ihren Ansichten in Malthusianer und Cornucopianer unterteilen. Die Malthusianer haben definitiv eine pessimistischere Sichtweise; sie sagen, dass wir die Kapazitäten unseres Planeten ausgeschöpft haben und nichts mehr produzieren können. Die Cornucopianer sagen, dass wir uns immer weiter entwickeln werden und in der Lage sein werden, mehr und mehr Nahrung zu produzieren und für alles eine Lösung zu finden. Ich stehe da in der Mitte.
Es gibt aber auch Menschen wie Paul Ehrlich, der 1968 das Buch “The Population Bomb” schrieb. Da packte er all seine Ideen rein; er sagte für die 70er und 80er Jahre große Kämpfe um Nahrung voraus. Die Grundaussage des Buchs war, dass die Welt am Ende ist. Er schlug vor, die Nahrungsnöte der Dritten Welt mit gezielter Sterilisation zu bekämpfen. Das finde ich widerlich: Warum sollte jemand, der sich selbst und seine Familie versorgen kann, anderen dieses Recht verwehren dürfen? Viele der Vorhersagen Ehrlichs sind nicht eingetreten. Das führte er dann auf seine Warnungen zurück. Natürlich haben wir eine Menge Probleme mit drohender Überbevölkerung und vorherrschender Nahrungsmittelknappheit, aber daran müssen rational herangehen und nicht mit populistischen Ideen.

Und das klappt?
Wenn wir ein Problem haben, das in unseren Köpfen herumschwirrt, dann lösen wir es. Das ist der Optimisten Sicht der Dinge. Der Klimawandel zum Beispiel ist grausam und könnte unseren Planeten eines Tages zerstören. Aber er ist auf unserem Radar. Viele Menschen entwickeln interessante und innovative Lösungen für diese Problematik. Die wahren Unglücke sind die, die nicht vorhersehbar sind. Morgen könnten wir alle schon sterben. Und wir wüssten bis heute nicht, warum.

Erschienen im Magazin reverb, Juni 2011.

Erschienen in am 3. November 2011.



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